Giacometti mischt das Bergell auf

Alberto Giacometti sorgt für Unruhe. Nicht in der Kunstwelt, sondern unter den Menschen in seiner Heimat – im Bergell. Das geplante «Centro Giacometti» spaltet die Talbevölkerung.

(Bild: MICHAEL WÜRTENBERG)

Alberto Giacometti sorgt für Unruhe. Nicht in der Kunstwelt, sondern unter den Menschen in seiner Heimat – im Bergell. Das geplante «Centro Giacometti» spaltet die Talbevölkerung.

Abends, kurz nach zehn tauchte er auf. Wir sassen vor dem Hotel Bre­gaglia in Promontogno beim Schlummertrunk und ordneten ein, was wir im Laufe des Tages über das geplante «Centro Giacometti» erfahren hatten. Es soll 2016 eröffnet werden, im 50. Todesjahr des Bildhauers und Malers Alberto Giacometti, und zwar in Stampa, wo er geboren wurde und bis zum Tod immer wieder lebte.

Wir rätselten über die Argumente der Leute, die das Projekt bekämpften, und hätten gern mit dem heimlichen Kopf der Opposition gesprochen. Mit Gian Andrea Walther. Er, der ehema­lige Sekundarlehrer und Präsident der «Società Culturale», war weder telefonisch erreichbar noch trafen wir ihn zu Hause. «Vielleicht», sagte eine Frau, «ist er am Heuen. Ich glaube, ihn auf dem Schilter gesehen zu haben.» Ein Phantom?

Wie ein Riegel steht der spätklassizistische Kasten des Hotels Bregaglia mitten im Tal. Jahrelang war der Betrieb eingestellt, heute ist der Bau zum Kunsthotel geworden. Ein Churer Galerist hat namhafte Künstler aus der Schweiz dafür begeistern können, Installationen einzurichen und Kunstwerke auszustellen. Das lockt Touristen an, die Kunst belebt das Hotel, die Zimmer werden wieder vermietet, zu günstigen Preisen, WC und Duschen auf dem Gang. Das Hotel trennt sozusagen das obere vom unteren Bergell, im Dunkel der Nacht wirkt es noch wuchtiger als am Tag, links und rechts schiessen die steilen Bergmassive hoch, im Hintergrund rauscht die Maira.

Und dann eben, kurz nach zehn: Aus dem finsteren Nichts taucht jemand auf, huscht die fünf Treppen­stufen ins Restaurant hoch – ein grau gelockter, kräftiger Mann, bärtig, behende. Wir haben ein Foto von ihm gesehen: Das muss Gian Walther sein. Der Mann, der im Hintergrund die ­Fäden des Widerstands gegen das «Centro Giacometti» ziehen soll. Und nun sitzt er drinnen, bei einem Glas Wein, sofort in eine heftige Diskussion verwickelt.
Ist er einfach der verstockte Bergler, der sich gegen Neues wehrt und auch dagegen, dass einer aus dieser Talgemeinschaft, eben Alberto Giacometti, allzu weit über die anderen hinausragt?

Ein ehrgeiziges Projekt

Gewiss, das «Centro Giacometti» ist ein ehrgeiziges Projekt. Als die gut­besuchte Gemeindeversammlung am 24. April dieses Jahres über einen Beitrag von maximal zwei Millionen Franken abstimmen sollte, rechneten die «Centro»-Anhänger noch mit 17,5 Millionen Franken, die sie alles in allem investieren wollten. Zwei Millionen von der Gemeinde, der Rest von Sponsoren. Es ist nicht der erste öffentliche Beitrag ans Projekt. 2009 hatte die Gemeinde schon 100 000 Franken bewilligt, ein Jahr später kamen weitere 150 000 Franken dazu. «Wir wollten uns nicht dem Vorwurf der Salamitaktik aussetzen und tranchenweise Kredite beantragen, sondern ein für alle mal festlegen, wieviel die Gemeinde ans Centro Giacometti zahlen wird», sagt die für Kultur zuständige Gemeinderätin Rosita Fasciati.

60 Prozent der Stimmenden sagten an jenem 24. April Ja zum Kredit. Sie knüpften aber die Bedingung daran, dass der Gemeindebeitrag höchstens zehn Prozent der Gesamtkosten ausmachen dürfe – mit anderen Worten: Der Verein «Amici del Centro Giacometti» muss namhafte Sponsorenbeiträge eintreiben.

Für den Präsidenten des «Amici»-Vereins war die Zustimmung zum Kredit ein gutes Zeichen. Wie sein Name, Marco Giacometti, vermuten lässt, ist er ein entfernter Verwandter des grossen Künstlers, besser gesagt: der grossen Künstler. Auch Albertos Vater Giovanni und Onkel Augusto gehören zur Malerdynastie aus dem Bergell. Sie alle sollen im neuen Centro gewürdigt werden.

So jedenfalls planen es die «Amici» mit ihrem umtriebigen, ideenreichen Präsidenten, dessen Kurzbiografie schon eine ungewöhnliche Persönlichkeit vermuten lässt. Der 52-jährige Marco Giacometti war Anfang der 1990er-Jahre Zootierarzt in Basel, wird bis Ende dieses Jahres Geschäftsführer des Schweizerischen Jagdverbandes sein, will dann nach einer Weiter­bildung in den Lehrerberuf wechseln, war auch mal interimistischer Leiter des Tal­museums «Ciäsa Granda», er ist verheiratet mit einer Ukrainerin. Und er hat sich – nebenamtlich – dem «Centro Giacometti» verschrieben.

Erlebnisweg zwischen Ställen

In der «Casa Pontisella» in Stampa, einem leerstehenden Palazzo-ähnlichen Haus an der Talstrasse, so erzählt er, soll eine Dauerausstellung entstehen, ein Seminarraum und ein Bistro. Auf einem Erlebnisweg kommt man an den Standorten vorbei, wo die Staffeleien der Künstler gestanden haben, und man sieht, welches Bild entstanden ist. Ungenutzte Ställe im Dorfzentrum werden zu multimedialen Ausstellungsräumen umgebaut. Aus Video-gesprächen mit Leuten aus dem Tal, welche die Künstler noch gekannt haben, erfährt man, wie das Leben im Dorf war und welche Begegnungen sie mit den Künstlern hatten.

Die Aufnahme der Zeitzeugnisse hat bereits angefangen – bezahlt aus den bisherigen Gemeindekrediten und Gönnerbeiträgen von der Bündner Kantonalbank, der Berghilfe, Swisslos. Eine Website orientiert detailliert über das Erreichte, über das Geplante, über die gegenwärtigen Schwierigkeiten.

Unbekannte Frauenakte

Doch an Letztere denkt jetzt Marco ­Giacometti gar nicht, wenn er seinen Visionen freien Lauf lässt. Er gestikuliert, steht auf, vom Wohnzimmer aus zeigt er, wo der Giacometti-Erlebnisweg durchgehen soll, welche Ställe – einer gehört ihm – das Projektteam ins Projekt einbeziehen will. Dann deutet er auf das Gebäude vis-à-vis der Stras­se: das Atelier. Giovanni Giacometti hat es eingerichtet, Alberto hat es übernommen. Seit Jahrzehnten ist es unzugänglich für die Öffentlichkeit, nur wenige durften es betreten.

Wir fragen, ob man da mal einen Blick reinwerfen könne. Marco Giacometti holt einen Schlüssel. Erst vor ­wenigen Tagen habe er Gäste ins Ate­lier geführt – den gesamten Bundesrat nämlich, als er auf seinem traditionellen Reisli in den Kanton von Bundespräsidentin Widmer-Schlumpf im Bergell Halt gemacht habe.

Und dann stehen wir im Atelier. Marco Giacometti reisst alle Läden auf, öffnet die Tür zum Balkon und lässt Licht in den legenden-umwitterten Raum. Ein Tisch, ein Stuhl und eine Metallpresse, auf der Giovanni Gia­cometti seine Holzschnitte druckte. Überall Zeugnisse des Wirkens der beiden Künstler Giovanni und Alberto, zwei Staffeleien voller Farbkleckse, Albertos Farbpalette, sein Aschenbecher, dann die Brandspuren, die der Kettenraucher hinterliess, wenn er die Glimmstängel am Boden oder auf dem Tisch aus­glühen liess.

Neben dem Ofen hat Giovanni impressionistische Malübungen hingepinselt, ganz klein sind seine einzigen Frauenakte zu sehen. Marco Giacometti ist überzeugt: «Diesen Raum muss man der Öffentlichkeit zugänglich machen.»

Marco Giacomettis Pläne fürs «Centro» tönen spannend. Die Stiftung ­Giacometti in Zürich sowie jene in ­Paris haben sich positiv zu den Plänen geäus­sert, der Verein «Amici» hat bereits 170 Mitglieder. Eigentlich wäre alles auf bestem Wege, wenn …

Das verflixte Detail

Ja, wenn nur dieses eine kleine, aber verflixte Detail nicht wäre: Die Werke der Giacomettis, die sich im Tal befinden, sowie das Atelier gehören der ­«Società Culturale di Bregaglia». Und die «Culturale», wie der Verein im Tal genannt wird, hat offenbar keine Lust, beim Projekt mitzumachen. Die einen haben Ideen, die anderen das Material, könnte man sagen.

Marco Giacometti sagt es so: «Am Anfang, im Jahre 2009, wollte ich das Projekt als Museumsleiter mit der ‹‹Culturale› aufbauen. Doch man zeigte mir die kalte Schulter.» Deshalb hat er die «Amici» gegründet, die zielstrebig die Pläne für das «Centro Giacometti» vorantrieben. «Und jetzt, da das Projekt konkret ist», schimpft er, «klagen sie, wir hätten sie zu spät einbezogen. Nun spielen sie auf Zeit. Die mögen Projekte anderer nicht. Das ist das Hauptproblem.»

Das Problem hat einen Namen

Möglicherweise hat dieses Hauptproblem auch einen ganz konkreten Namen: Gian Walther, der Mann, den wir den ganzen Tag vergeblich gesucht haben und der nun drinnen im Restaurant debattiert. Wir haben ihn unterdessen angesprochen, er hat uns an den Tisch gebeten und geht direkt zur Sache. «Die Giacomettis brauchen doch um Himmels willen keine neue Stätte», schimpft er. Denn: Die «So­cietà Culturale», deren Präsident er während mehr als 30 Jahren war – «mehr als 30 Jahre!», wiederholt er – hat im Talmuseum «Ciäsa Granda» einen Keller ausgebaut und eingerichtet, in dem die Werke der Giacomettis zu sehen sind – die «Sala Giacometti». Dort unten hängen wertvolle Gemälde und Skizzen von Vater, Onkel und Alberto Giacometti, da stehen Büsten, Skulpturen. Auch Werke von Varlin, einem weiteren international renommierten, allerdings zugewanderten Bergeller Maler. Unter anderem das Bild «Die Leute meines Dorfes» – fast drei Meter hoch, über sieben Meter breit, auf dem Varlins Freund Friedrich Dürrenmatt verewigt ist.

«Genügt denn das nicht?», fragt Gian Walther. Was diese «Amici» planten, grenze an Grössenwahnsinn. «Wer sich für unsere Künstler interessiert, kann jederzeit kommen.» Noch mehr Leute herankarren zu wollen, hält er für einen Unsinn. Cars voller Japaner! Von 25 000 Touristen pro Jahr würden die «Amici» reden. «Solche Völkerwanderungen schaden dem Tal», sagt Walther, nur volkswirtschaftliche ­Theoretiker könnten im Ernst daran glauben, dass mit diesem Tourismusprojekt die Abwanderung aus dem Tal gestoppt und die Logierzahlen in den Bergeller Hotels verbessert werden könnten. Das Bergell sei nicht einfach «Giacometti, Giacometti, Giacometti».
Walther sagt, man solle doch mal zur Kenntnis nehmen, wie viele Leute hergereist kämen, um Roman Signer, Gaudenz Signorell, Not Vital anzusehen – zeitgenössische Kunst hier im «Arte Hotel Bregaglia» – «Immer diese Giacometti!».

Wie Donnergrollen

Gian Walthers Tiraden im schummrigen Licht des Restaurants wirken wie Donnergrollen zwischen Bergwänden. Einwände gegen seine Argumente gehen unter. Wir merken erst mit der Zeit, dass Gian Walthers Tischgenossen seine Ideen gar nicht teilen, jedenfalls nicht in vollem Umfang.

Im Gegenteil: Sie versuchen zu widersprechen. Besonders der eine, Grossrat Maurizio Michael, ist überzeugt, dass das Bergell die Giacometti besser vermarkten müsse. Natürlich sei das «Centro» etwas arg gross gedacht, und natürlich seien die einzelnen Projekte noch nicht ausgefeilt. «Aber man kann nicht immer warten, bis das letzte Detail geregelt ist, sonst geschieht gar nichts.»

Der dritte am Tisch, Renzo Gio­vanoli, steht irgendwo zwischendrin, zwischen «Amici» und «Culturale». Er, ein ehemaliger Gemeindepräsident, hat zwar am 24. April für den Kredit gestimmt, findet aber das Projekt auch überrissen, und es macht ihn sehr ­misstrauisch, dass die «Amici» jetzt ­plötzlich davon reden, das «Centro Giacometti» in reduziertem Umfang ­rea­lisieren zu wollen für nur noch acht Millionen Franken. Plötzlich wolle man auf einen Neubau verzichten, und um Betriebskosten zu sparen, soll kein vollamtlicher Kunsthistoriker angestellt werden. «Das ist doch unseriös.»

Aber weil er zwischendrin steht, macht er auch Gian Walther Vorwürfe: «Du legst dich nur derart quer, weil du nicht von Anfang an miteinbezogen worden bist.» Dieser bestreitet das nicht einmal. Nur das Argument, dass er gegen die Pläne sei, weil da Vetterliwirtschaft betrieben werde – Marco Giacometti ist der Bruder der amtierenden Gemeindepräsidentin –, lässt er nicht gelten. «Ach was», sagt Walther, «hier ist doch jeder mit jedem irgendwie verwandt. Meine Grossmutter war auch eine Giacometti.»

Wen immer wir anderntags an­sprechen: Alle Leute im Tal kennen das Projekt, wissen von den Querelen. Gianna Negrini, die auf dem Friedhof, wo Alberto Giacometti liegt, den Rasen mäht, sagt: «Es kommen viele Leute am Grab vorbei. Man könnte durchaus etwas mehr bieten mit einem ‹Centro›. Aber ob es so gross sein muss?»

Andere sagen, die Schwierigkeiten lägen halt schon in den unterschied­lichen Charakteren der beiden Exponenten: Der eine, Gian Walther, habe den Eindruck, sein Lebenswerk, sein Einsatz für das Bergeller Kulturgut, würde zu wenig gewürdigt. Der andere, Marco Giacometti, gehe zu wenig auf Einwände von Gegnern ein, übergehe andere und sei für viele zu umtriebig: «Kommst du nach einer Sitzung heim, hat er dir schon das Protokoll zu­gemailt.»

Starre Fronten

Im Moment herrscht Funkstille zwischen der «Culturale» und den «Amici». Das Angebot der Letzteren, das Projekt nun doch in enger Zusamenarbeit mit dem Talmuseum, der «Ciäsa Granda», zu realisieren, und erst noch in kleinerem Umfang, hat die Fronten nicht aufgeweicht.

Am 25. Juni haben sich Vertreter beider Vereine letztmals getroffen. Die «Amici» erwarten jetzt von der «Cul­turale» Vorschläge, wie es weitergehen soll. Diese haben eine Antwort in Aussicht gestellt – allerdings erst im Herbst. Das geht Marco Giacometti zu langsam, er befürchtet, mit diesem Tempo könne das «Centro Giacometti» bis zum Todesjahr Albertos nicht realisiert werden. Die «Amici» haben deshalb den Gemeinderat als Vermittler vorgeschlagen. Darüber kann Gian Walther nur lachen. Er sagte es mehrmals: «Ein Neuanfang für das ‹Centro› ist allenfalls dann möglich, wenn sich die ‹Amici› aufgelöst haben.»

Dicke Luft also im Bergell. Sie ist dem Gedeihen des «Centro Giaco­metti» nicht förderlich. Die «Amici» warten nun auf die vermittelnde Rolle der Gemeindebehörden und «sind gezwungen, vorübergehend die Arbeiten des Fundraising, der Planung und der Dokumentation zu suspendieren». Dies schrieb «Amici»-Präsident Marco Giacometti am 12. Juli in einem Artikel in der Zeitung «Il Grigione Italiano». Doch das passt der Nachfolgerin von Gian Walther an der Spitze der «Culturale», der heutigen Präsidentin Bruna Ruinella, überhaupt nicht: «Kommt der Gemeinderat ins Spiel, wird die Sache politisch. Das wollen wir nicht.» Ihr Vorschlag? Schulterzucken. «Das Problem ist», sagt sie, «dass wir uns nie richtig einbringen konnten. Eigentlich hatten wir ja gar nichts gegen das Projekt, solange es auf die Giacomettis ausgerichetet war.»

Unterdessen teilte die Gemeinde­behörde mit, dass sie die Vermittlerrolle nicht übernehmen werde. «Wie soll es weitergehen?», fragt Marco Giacometti. Auf die Anfrage bei der Bündner Kantonalbank, ob sie das Projekt weiterhin unterstütze, kommt ein lapidares Mail: «Besten Dank für Ihre Anfrage. Die Graubündner Kantonalbank kann dazu keine weiteren Auskünfte geben.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.07.12

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