Hochspannung. Mit neun Jahren sitze ich im dunklen Wohnzimmer meines besten Schulfreundes auf dem Sofa, während im Fernseher ein urzeitliches Ungetüm funkensprühende Starkstromleitungen einreisst, als wäre es ein gewöhnlicher Viehdraht. Godzilla heisst das schwarzweisse Biest, was in der guten Stube mit Wohnwand und Heiligenbildern fast mediterran klingt: Die Familie meines Gastgebers stammt aus Sizilien.
Natürlich ist Gojira, wie das Meeresungeheuer im Original genannt wird, so japanisch wie Miso-Suppe, doch unter dem amerikanisierten Spitznamen Godzilla hat es eine Spur der Verwüstung um die ganze Welt gezogen: In bislang 30 Filmen ist der «König der Ungeheuer» durch Miniaturkulissen getrampelt, das US-Remake aus dem Jahr 1998 von Roland Emmerich nicht mitgezählt.
Pünktlich zu seinem 60. Geburtstag droht Gojira der Menschheit jetzt wieder die Kerzen auszublasen. Das Monster kehrt diesen Donnerstag als 160-Millionen-US-Dollar-schwere Hollywood-Apokalypse auf die Leinwand zurück, in alter Form und imposanter denn je: exakt so gross wie der Basler Messeturm.
Sohn des Atoms
Dass der Riesensaurier im Land der acht Millionen Götter, Erdbeben und Tsunamis erfunden wurde, klingt einleuchtend. Doch spielte der Westen eine entscheidende, unrühmliche Rolle als Geburtshelfer des Ungeheuers.
Ishiro Honda, der Regisseur von «Gojira», hatte die zerstörerischen Folgen der Atombombe in Hiroshima mit eigenen Augen gesehen, und auch der blendende Blitz, der zu Beginn des Monsterfilms ein Schiff versenkt, hat eine Entsprechung in der Realität: 1954, im Entstehungsjahr von «Gojira», wurde bei Kernwaffentests der US-amerikanischen Armee das japanische Fischerboot «Glücklicher Drache V» verseucht.
Godzilla mit seinem radioaktiven Odem und der narbigen Haut eines Strahlenopfers verkörperte den unfassbaren Schrecken, der Japan während des Zweiten Weltkrieges versehrt und allen Nationalstolz eingeebnet hatte: Zwar wird das Ungeheuer zuletzt mit noch mehr Technologie besiegt, doch – so der eindringliche Schlussappell – droht Gojira jederzeit zurückzukehren, falls die Waffentests fortgesetzt werden. Die heimliche Lust an der Selbstzerstörung ist nicht totzukriegen.
Monster im Anzug
Um den kritischen Zeitkommentar an der US-Zensur vorbeizuschmuggeln, nutzte Honda die Filmsprache der amerikanischen Besatzer und studierte neben «King Kong» (1933) auch «The Beast From 20’000 Fathoms» (1953), in dem ebenfalls ein Riesenreptil durch Atomversuche freigesetzt wird – mit dem Schweizer Schauspieler Paul Hubschmid als federführenden Wissenschaftler. Beide Monsterfilme setzten auf die Technik der Stop-Motion, bei der Miniaturmodelle aufwendig Bild für Bild animiert wurden.
Aus Zeitgründen verlegte sich Honda deswegen auf die sogenannte «Suitmation»: Stuntman Haruo Nakajima stülpte sich ein über 100 Kilogramm schweres Kostüm über, mit dem er durch massstabsgetreue Kulissen stolperte – eine Rolle, die Nakajima fast 20 Jahre lang mit grossem Enthusiasmus und vollem Körpereinsatz spielte.
Zu den Markenzeichen des Monsters gehörte neben den zeitlupenhaften Auftritten auch sein metallisches Kreischen, das auf den Saiten eines Kontrabasses erzeugt und verfremdet abgespielt wurde.
Dein Freund und Helfer
Der Erfolg von «Gojira» legte den Grundstein für eine ganze Flut von Nachfolgefilmen, in denen immer neue Absonderlichkeiten auftraten: Riesenmotten, dreiköpfige Drachen, sogar King Kong und Frankenstein. Diese sorgten optisch für Abwechslung und stellten den Publikumsliebling Godzilla zudem vor eine würdigere Herausforderung als die hilflosen japanischen Streitkräfte.
Mit den neuen Widersachern wandelte sich auch Godzillas Charakter. Ähnlich wie der Weltpolizist USA mutierte er zum Freund und Helfer, der Japan im Kampf gegen schuppige Invasoren beistand. So erstaunt es wenig, dass Gojira ein niedlicheres Aussehen annahm und nach einem wohlverdienten Sieg auch mal ein Freudentänzchen hinlegte: Das Ungeheuer verabschiedete sich für längere Zeit ins Kinderprogramm.
1994 liess die japanische Produktiongesellschaft Toho ihren Godzilla vorübergehend sterben, um den Weg freizumachen für Roland Emmerichs Hollywood-Kino-Adaption. Diese fiel bei eingefleischten Fans rundwegs durch, weil das digitale Monster-Design den schusseligen Charme des Originals gänzlich vermissen liess. Sogar Lizenzgeber Toho distanzierte sich von dem missglückten Experiment.
Nach Fukushima
Seitdem wurden beidseits des Pazifiks fleissig weiter Monsterfilme gedreht, in Japan mit Gojira, in den USA mit artverwandten Kreaturen, die mal die Angst vor Terror («Cloverfield») oder schlicht die Lust am visuellen Overkill («Pacific Rim») transportierten.
Unter den Vorzeichen der Katastrophe von Fukushima verspricht die Neuauflage von Godzilla ein weiteres, düsteres Kapitel in der Karriere der Riesenechse. Tatsächlich beginnt der Film denn auch mit einer nuklearen Katastrophe in einem Atomkraftwerk. Die Zone wird zum Sperrgebiet – doch eigenartigerweise bleibt sie strahlungsfrei. Eine Kreatur (oder sind es gar mehrere?), stellt ein Wissenschaftler fest, absorbiert die Radioaktivität, nährt sich davon. Wenn diese Sprengkraft freigesetzt wird, kommt es zum Kampf der Titanen. Und zu einem Kinovergnügen, das bedeutend grösser ist als zuletzt in Emmerichs Version.
Doch auch selbst wenn Gojira an den Kinokassen scheitern sollte, wird die Bombe auf Beinen weiterticken. Wer das atomare Feuer in sich trägt, muss einen Schuss in den Ofen nicht fürchten.