Grau in grau – Peter Stamms neuster Roman enttäuscht

Peter Stamms neues Buch ist ein literarischer Beta-Blocker: keine Höhenflüge, keine Abgründe – grau, so weit das Auge reicht. Heute liest er im Literaturhaus Basel.

Grau in grau: Peter Stamms neuster Streich «Weit über das Land».

(Bild: Hansjörg Walter)

Peter Stamms neues Buch ist ein literarischer Beta-Blocker: keine Höhenflüge, keine Abgründe – grau, so weit das Auge reicht. Heute liest er im Literaturhaus Basel.

Peter Stamm ist ja eigentlich ein Star. Er ist der einzige Schweizer Autor, den man, mal abgesehen von den Grossmeistern Dürrenmatt und Frisch, in jungen Leserkreisen im Ausland erwähnen kann, ohne fragende Augenbrauen zu ernten. Stamm ist eine internationale Grösse (nebst Günter Grass und Robert Seethaler der einzige deutschsprachige Schriftsteller, der jemals für den Man Booker International Prize nominiert war), was auf den ersten Blick erstaunt – hätte man doch eher auf die Big Names Franz Hohler oder Martin Suter gesetzt. Auf den zweiten Blick aber, und das wissen Stamm-Leser, ist offensichtlich, wieso dieser Schriftsteller so weltumspannend beliebt ist: Er trifft ganz tief mit ganz wenig.

Peter Stamms Metier ist die unterschwellige Traurigkeit, die jedem Menschen innewohnt, die immer nagende Frage, ob man am richtigen Ort ist, am richtigen Strick zieht, den richtigen Menschen liebt. Und die ewige Gewissheit, dass man es nie ganz herausfinden wird. Stamms Bücher atmen dieses Gefühl, ja gäbe es einen Namen dafür, es müsste seinen Namen tragen.

Reise ins Innerste

Wenn in Peter Stamms Romanen wieder einmal ein junges Paar nach seinem Platz im Leben sucht oder ein Mann seine idyllische Ehe mit einer unausgeglichenen Affäre strapaziert, dann ist man ganz nah bei den Figuren – sie tun das, was Literatur zu tun hat: einen da hinbringen, wo man sich im richtigen Leben nicht hintraut.

Dabei setzt Stamm nicht auf starke Gefühle und grosse Gesten. Ganz im Gegenteil: Er verlässt sich auf das mulmige Gefühl in der Magengegend, den Kloss im Hals – sein Metier ist das Vage, das Unausgesprochene, gerade so weit formuliert, dass es spürbar wird, ohne explizit Teil der Geschichte zu werden.

In diesen immanenten Emotionen liegt Peter Stamms Stärke, die er mit jedem Buch wieder neu ausspielt. Was auch dazu führt, dass bei jeder Neuerscheinung die Frage im Raum steht: Was kann jetzt noch kommen? Verkommt er zum One Trick Pony? Oder kriegt Stamm die Kurve und beschert uns eine Geschichte, die sich wieder einmal mitten in unser Innerstes gräbt? 


Sehenswert: Peter Stamm 2015, in Aktion und Erklärung.

Bis jetzt hat er sie immer gekriegt, die Kurve. Mal besser, mal unbefriedigender, aber immer mit jenem zufriedenen Seufzen am Ende des Romans, aus der Gewissheit, etwas Bedeutendem beigewohnt zu haben.

«Weit über das Land» kriegt die Kurve nicht. So viel mal vorneweg. Es verhaspelt sich in Details, es setzt an den falschen Stellen an, es kommt nicht auf den Punkt, und wenn, dann so eindeutig, dass wir nach der dritten Ausformulierung von Protagonist Thomas‘ Unzugehörigkeitsgefühl entnervt die Augen rollen. Muss das sein?

Die Geschichte handelt von Thomas, Familienvater, Ehemann, Buchhalter. Langweiliges Leben, aber mit liebevoller Sorgfalt gehegt. Schweiz halt. Einfamilienhaus, regelmässige Znacht-Zeiten, Routine, Ordnung, Geranien. Stamm-Revier. Bis zum Ausbruch, als Thomas von einem Tag auf den anderen beschliesst, abzuhauen. Er tut es nonchalant, aus einer Laune heraus, zack und weg. 

Es isch halt eso

Stamms Art, diese Geschichten zu erzählen, passt gut zur sturen «Es isch halt eso»-Mittelmässigkeit, der Thomas zu entfliehen versucht: Ja nie zu hoch hinaus oder zu tief hinab. Dem gegenüber setzt Stamm Landschaftsbilder, die so akribisch gezeichnet sind, dass man sich fragt, ob sich der Autor über seine Protagonisten lustig macht, indem er Wald und Wiesen solch unangemessene Dringlichkeit verleiht. 

Die Geschichte dazu dümpelt trotz brisanter Thematik belanglos vor sich her. «Taubengrau», meinte eine Freundin, und es trifft dieses Buch gut: Da ist keine Farbe vorhanden, von einer Gefühlsskala von 1 bis 100 bleibt Stamm im 30er-Bereich und geht weder rauf noch runter. 

Man wünscht ihm mehr Mut, mehr Fieber, mehr Rausch. Mehr «jetzt hat Thomas was davon, wenn er schon den ganzen faden Kram hinter sich lässt». Aber nix da. Thomas ist selbst in seinem Ausbruch so gesittet und rechtschaffen, dass es wehtut. Man dringt nicht unter seine Oberfläche, auch nicht unter die seiner Frau Astrid, die nach einem Zusammenbruch, kurz und unerheblich wie ein schneller Japser, ihr Leben weiterführt wie zuvor. 

Dabei sind Stamms Stärke doch gerade seine spürbaren Figuren, an die man sich langsam rantastet, die man Seite für Seite kennenlernt, die die kleinen Geheimnisse schultern, die man selbst auch trägt.

Bei Thomas aber hat sich Stamm für einmal gleichzeitig zu fest zurückgehalten und zu weit hinausgelehnt: Er liefert gar keine Erklärungen mehr, keine Andeutungen, keine subtilen Nuancen, die uns langsam ein Bild der Charaktere vermitteln. Thomas hat das Gefühl, gehen zu müssen, also geht er halt. Thomas bleibt taubengrau. Oder, um es mit einem Romantitel Stamms zu beschreiben: Eine ungefähre Landschaft.

Müd hingeklatschte Katastrophe

Am Ende, als selbst die Katastrophe müd hingeklatscht anmutet, beschleicht einen das Gefühl, dass Peter Stamm es ja womöglich genau darauf angelegt hat: Auf die Essenz des Schweizers als untadeliger, korrekter Bürger, der so verfahren ist, dass er sogar anarchistischen Situationen eine unerträglich biedere Struktur abgewinnt. Als jemand, der nicht über und nicht unter die 30 Prozent Gefühl kommt, als jemand, der selbst mit dem ungeheuerlichsten Ausbruch immer der Buchhalter mit den fixen Znacht-Zeiten bleiben wird.

Vielleicht hat Stamm deshalb auch ein Zitat aus Markus Werners «Zündels Abgang» der Geschichte vorangestellt: «Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns.»

Wenn ja, darf man es als eine solide Entschuldigung für die quälende Bravheit verstehen, der uns «Weit über das Land» ausliefert. Wenn nicht, gibt es keine Entschuldigung. «An der Gegenwart krepiert die Leidenschaft», sagt Zündels Vater im Satz vor dem Zitat. Das hätte definitiv besser gepasst.

_
Peter Stamm: «Weit über das Land», Literaturhaus Basel, Dienstag, 24.5.2016, 19 Uhr. Die Veranstaltung ist ausverkauft!

Nächster Artikel