Dieser «Frankenstein» ist effekthascherisch, pathetisch, melodramatisch – und überwältigend: Filmemacher Philipp Stölzl bringt Mary Shelleys romantischen Schauerroman wie ein grosses Kino-Epos auf die Schauspielhaus-Bühne.
Dieses Monstrum ist ganz einfach umwerfend. Äusserlich ist es eine gruselige Mischung aus riesenhaftem Knochenmann, Zombie und Maschinenmenschen, mit einem mächtigen haarlosen Totenschädel, langen knochigen Alien-Fingern und gewaltigen Krähenfüssen. Und doch ist es ein Wesen, das trotz seiner Schauertaten, zu denen es getrieben wird, Mitgefühl auslöst und tiefgreifend berührt.
Vor allem aber ist es faszinierend zu erleben, wie lebendig sich dieses Monster, das von Marius Kob entworfen wurde, auf der Bühne bewegt. Die missgestaltige Kreatur ist eine Puppe. Geführt wird sie von drei Spielern (Christian Pfütze, Lisa Wilfert und Nina Maria Wyss), ihre Stimme erhält sie von der Schauspielerin Cathrin Störmer. Und auch wenn die Puppenspieler stets sichtbar bleiben, auch wenn die Sprecherin auf einem Podest im Hintergrund immer präsent ist und mit der Zeit sogar auf die Spielfläche heruntersteigt, vergisst man rasch, dass es sich «nur» um eine Figur aus Metall, Stoff und irgendwelchen Füllmaterialien handelt.
Dieses auf grandiose Weise zum Leben erweckte Monstrum steht ganz klar im Zentrum der Inszenierung von Mary Shelleys berühmtem Roman «Frankenstein». Regisseur Philipp Stölzl erzählt die romantische Schauergeschichte des Wissenschaftlers, der ein künstliches Wesen schafft, aus der Sicht eben dieses Wesens heraus. Wir erleben also die dramatisierte Autobiografie einer Kreatur, die schmerzlichst unter der grossen Einsamkeit leidet, in die sie wegen ihrer furchterregenden Erscheinung getrieben wird. Die sich nach Liebe sehnt, aber abgestossen wird und sich deshalb zum grauenvollen Monstrum entwickelt.
Monster und Gefühlsmenschen hinter Gittern
Stölzl verbirgt seine Herkunft als Filmregisseur keineswegs. Sein «Frankenstein» hat aber nichts mit den alten Horrorstreifen mit dem quadratschädeligen Boris Karloff zu tun. Es ist vielmehr ein wuchtiges Gefühlsepos nach Hollywoodmanier, ein berauschender Bilderbogen mit üppigen historischen Kostümen (Kathi Maurer), mit viel Nebel, Rauch und Lichteffekten und regem Szenenwechsel. Untermalt wird das Ganze wie im Kino mit einem atmosphärisch aufgeladenen neoromantischen Musikteppich – komponiert von Jan Dvořák und wunderbar gespielt von einem Cellistentrio mit Clara Rada Gomez, Mathilde Raemy und Moritz Benjamin Kolb.
Stölzl, der über viel Erfahrung als Opernregisseur verfügt, weiss, wie man die Zaubertheatermaschinerie effektvoll in Gang bringt. Die Bühne (Heike Vollmer und Philipp Stölzl) präsentiert sich als Menschenkäfig, der zu drei Seiten von Zuschauerreihen umgeben ist. Die von den ganz grossen Gefühlswallungen getriebenen Figuren gehören in einer Gegenwart, die von Understatement und Berechenbarkeit beherrscht wird, hinter Gitter. Das gilt vor allem für die beiden Hauptfiguren: Das Monster und sein heillos in die Verzweiflung getriebener Schöpfer Viktor Frankenstein (David Berger), der zuweilen monströser wirkt als seine Kreatur.
Epische Erzählweise
Stölzl erzählt diese Geschichte in vielen wechselnden Bildern detailreich und ohne jegliche Hast. Das führt natürlich dazu, dass der Abend für eine Schauspielproduktion ungewöhnlich lang ist. Aber alles andere als langweilig. Der rauschhaft-düstere Bilderbogen, der frei ist von jeglicher Distanziertheit und Ironie, der sich ganz auf die Geschichte aus dem frühen 19. Jahrhundert konzentriert und auf explizite Gegenwartsbezüge verzichtet, zieht das Publikum in seinen Bann.
Dazu kommt ein herausragendes Ensemble, das sich voll und ganz auf dieses grosse Gefühlstheater einlässt und somit verhindert, vom faszinierenden Monster ganz an die Wand gespielt zu werden. Das Publikum zeigte nach über drei Stunden Spieldauer keinerlei Ermüdungserscheinungen und bedankte sich für das ungewöhnliche Theatererlebnis mit frenetischem Applaus, der in seiner Länge der Dauer des Abends angemessen war.
«Frankenstein» nach dem Roman von Mary Shelley
Theater Basel, Schauspielhaus
Die Inszenierung wird vom 22. September bis 17. Oktober mit rasch aufeinanderfolgenden Vorstellungen ensuite gespielt.