Für ihrem Dokfilm «Neuland» über Schüler einer Basler Integrationsklasse hat Anna Thommen bereits mehrere Preise abgeholt. Vielleicht holt sie sich bald den nächsten: Sie ist für den Schweizer Filmpreis nominiert, der am 21. März verliehen wird.
Mein echtes Leben ist das nicht», sagt Anna Thommen über den Rummel, den der Erfolg ihres Dokumentarfilms «Neuland» mit sich bringt. Doch dann und wann ein Galadinner, das passt ihr schon. Kommende Woche könnte es noch mal richtig losgehen. Nachdem sie an den Festivals in Zürich und Solothurn bereits abgeräumt hat, ist sie für den Schweizer Filmpreis nominiert, der am 21. März verliehen wird. Kinostart von «Neuland» ist am 27. März.
Offensichtlich hat Anna Thommen ein Bedürfnis der Menschen getroffen. Und die offene Wunde. Ihr Film über die Schüler und den Lehrer einer Integrationsklasse in der Kaserne Basel stellt Nähe zu Menschen her, die mitten unter uns sind und die doch niemand sieht. Vor denen eine diffuse Angst herrscht, obwohl niemand weiss, wovor eigentlich.
Seit dem 9. Februar wird Anna Thommen mit Fragen zum Abstimmungsergebnis überrannt. Das Antworten ist ihr unangenehm, da sie sich weder für politisch noch für kompetent hält. Doch gerade weil sie keine Fakten und Zahlen wälzt, sondern die Menschen begleitet hat, um die es geht, haben wir nachgefragt.
Bei meinem letzten Interview ist mein Aufnahmegerät ausgestiegen. Ich hoffe, es funktioniert diesmal.
Ich kann auch mitschneiden. Ich habe jetzt auch so ein Smartphone.
Neu?
Ja, mein Sohn hat das vorige in den Mund genommen, und dabei hat es einen Kurzschluss gegeben. Es war ein altes, mit dem man nur SMS schreiben konnte und telefonieren. Ich fand das super, ich hatte immer eine Ausrede: Ich hab das Mail leider nicht gesehen … Mit dem Smartphone musst du immer direkt antworten, zack, zack. Das ist hart.
Als ich Sie das letzte Mal um ein Interview anfragte, riefen Sie umgehend zurück. Dieses Mal haben Sie mir einen Tag später zurückgeschrieben, ich möge mich bitte an Ihre Pressesprecherin wenden. Was ist passiert?
(lacht) Ich glaube, das war der Tag nach den Solothurner Filmtagen, wo ich den Prix du Public bekommen habe. Da kam eine Presseanfrage nach der anderen. Ich brauchte eine Auszeit, einen Tag mit meiner Familie. Seit ein paar Monaten habe ich einen Verleih und damit auch eine Presseverantwortliche. Sie büschelt die Anfragen.
Ist Ihr Leben anders geworden? Sie haben jetzt Personal …
Ja, schon. Das sind alles Leute vom Verleih, die jetzt für Sachen zuständig sind, die ich früher alle selber gemacht habe.
Sie haben weniger Arbeit und zugleich mehr, weil Sie auf dem Weg sind, eine öffentliche Person zu werden?
Vielleicht. Das ist etwas, was ich noch nicht abschätzen kann. Es passiert gerade. Einerseits macht die Aufmerksamkeit Spass, andererseits ist sie anstrengend. Auch, weil mein Alltag seit einiger Zeit völlig anders aussieht.
Wie?
Er ist geprägt von Windelnwechseln, Füttern und wenig Schlaf. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist anstrengend für mich als junge Mutter. Mir ist enorm wichtig, dass meine Familie nicht darunter leidet. Sie geht vor. Zugleich finde ich den Rummel toll, weil er das Leben spannend macht. Da kommen zwei verschiedene Welten zusammen.
Was finden Sie spannend am Rummel?
Man geht nach aussen. Man zeigt sich der Welt. Man geht an Galas.
Stehen Sie auf schick?
Das finde ich super, wenn es nur für einen Moment ist. Mein wirkliches Leben ist ganz anders, sehr zentriert und nach innen gerichtet. Ich bin wenig im Ausgang, viel daheim und mache es mir dort so schön wie möglich. Aber ich bin keine Fulltime-Mutter, die nur daheim sein will. Die Mischform ist toll. Und ich bringe das jetzt zu Ende. Ich habe nicht vier Jahre für den Film geschafft, um jetzt aufzuhören.
Was machen Sie, um vom Rummel runterzukommen?
Ich komme sofort runter, wenn ich in meinem Alltag lande. Ein Kind erdet enorm. Man ist völlig im Moment, die ganze Zeit. Du machst dir keine Gedanken über Zukunft oder Vergangenheit oder darüber, was irgendwelche Leute über dich denken.
Also passt es gut, dass Ihr Erfolg kurz nach dem Kind kam.
Ja, es hilft mir, bei mir zu bleiben. Somit bleibt der Rummel auf Momente beschränkt. In ein paar Monaten interessiert sich sowieso niemand mehr für mich. Ich geniesse das jetzt und kann sicher davon profitieren für ein neues Filmprojekt.
Sie glauben also nicht, dass Sie tief fallen werden, wenn die Aufmerksamkeit vorüber ist?
Nein, überhaupt nicht! Manchmal kommen meine Eltern mit einem Zeitungsartikel, den sie ausgeschnitten haben, und ich habe nicht mal mitbekommen, dass es den gibt. Dann lese ich ihn und es berührt mich nicht tief.
Wie geht es den Leuten, die Sie in «Neuland» porträtiert haben heute?
Es geht ihnen gut. Ehsanullah, der afghanische Flüchtling, hat lange als Hilfsarbeiter gearbeitet. Nachdem er im Oktober den Film gesehen hat, ging er zu Christian Zingg, dem Lehrer seiner Integrations- und Berufswahlklasse, und sagte ihm, er wolle nun eine Lehrstelle suchen. Jetzt schreibt er mit Herrn Zingg Bewerbungen. Es ist nicht einfach. Sie können das schreiben: Ehsanullah sucht Kochlehre (lacht).
«Angebote direkt an …»
… genau. Nein, wirklich, wir sagen es dem Publikum bei jeder Vorführung. Einige Sachen haben sich schon ergeben. Und Nazlije, eine weitere Schülerin, die im Film vorkommt, ist ziemlich glücklich in ihrer Lehrstelle als Altenbetreuerin.
Ihr Film ist durch den 9. Februar sehr aktuell geworden. Gegen wen genau richtet sich Ihrer Meinung nach das Abstimmungsergebnis?
Gegen eine offene Welt. Das Ergebnis hat viel mit Angst zu tun. Angst ist oft nicht zielgerichtet. Sie sucht sich Opfer, aber ich glaube nicht, dass sie sich von vornherein auf spezifische Personen richtet.
«Das Abstimmungsergebnis richtet sich gegen eine offene Welt.»
Ausschlaggebend war also nicht die «Angst vor», sondern die «Angst wegen».
Viele Faktoren spielen zusammen, damit die Angst vor dem Fremden entsteht. Schlussendlich ist es die Angst, die eigene Existenz zu verlieren. Aus meiner Perspektive ist das verrückt und irrational. Doch für viele ist diese Angst real, und wir müssen jetzt schauen, was das für Leute sind, die Ja gestimmt haben, und wovon sie sich bedroht fühlen.
Was ist Ihre Perspektive?
Andersartigkeit – das ist für mich meistens eine Bereicherung. Leute, die von aussen in die Schweiz kommen, sind eine Bereicherung. Nicht alle natürlich, aber grundsätzlich auf jeden Fall. Ich stelle es mir unglaublich schrecklich vor, wenn nur Schweizerinnen und Schweizer in unserem Land leben würden. Das wäre für mich die Hölle.
Verträgt die Schweiz noch mehr Ausländer, als sie jetzt hat?
Natürlich! Es ist doch seltsam, dass man überhaupt Ausländer und Schweizer unterscheidet. Aber ich will keine politische Diskussion führen. Das Ergebnis verleiht der allgemeinen Angst Ausdruck, dass es uns so schlecht gehen könnte wie dem Rest der Welt. Alle stecken mitten in der Krise, nur in der Schweiz merkt man fast nichts davon. Wir wollen, dass es uns weiter gut geht, auch wenn der Rest der Welt untergeht. Das ist ein krasses Denken. Und dann kommen Leute wie Ehsanullah hierher, hilfesuchend, um ihre Familie zu unterstützen, und werden nur als Bedrohung wahrgenommen. Es ist schwierig, gegen diese Angst anzukommen. Man kann nur mit Humanismus argumentieren. Doch humanistisches Denken findet zurzeit nicht statt. Das ist sehr traurig.
Bald kommt «Neuland» in die Kinos. Wer, wünschen Sie sich, sollte den Film sehen?
Ich fände sehr schön, wenn Leute den Film sehen, die wenig Berührungspunkte mit Migranten haben und diese Welt nicht kennen. Sie erfahren nur durch Zeitungen davon und haben möglicherweise ein einseitiges Bild. Der Film bringt Einzelschicksale nah. Man hat danach das Gefühl, dass man jemanden kennt und weiss, was er durchmacht. Mich würde interessieren, wie Leute aus kleinen Dörfern auf «Neuland» reagieren.
Die grosse Frage ist doch: Wie erreicht man die Leute, die Ja gestimmt haben?
An den Solothurner Filmtagen war Migration das Thema Nummer eins. Es gab x Filme darüber: «L’escale», ein unglaublich toller Film übrigens, «La barque n’est pas pleine», «Live in Paradise – Illegale in der Nachbarschaft», ich kann nicht alle aufzählen. Es gibt viele Filmemacher, die sich damit beschäftigen. Gerade im Film ist es möglich, Menschen einem grossen Publikum nahezubringen. Das ist unsere Rolle. Als «L’escale» den Prix Soleure gewonnen hat und «Neuland» den Prix du Public, haben mir die Leute von den Solothurner Filmtagen gesagt: «Wir haben unser Statement gemacht.» Die Filmtage holen ein breites Publikum nach Solothurn, und es wird viel darüber berichtet. Ich denke schon, dass Kunst und Kultur ein Weg sind, das Thema Migration zu vermitteln. Politisch ist es schwer, an die Menschen heranzukommen, weil die Politik in einem Korsett steckt.
«Mich würde interessieren, wie Leute aus kleinen Dörfern auf ‹Neuland› reagieren»
Wie meinen Sie das?
Es gibt politische Positionen und den Kampf um Stimmen. Es wird viel geredet mit vielen Schlagwörtern, doch nicht jeder versteht alles. Es geht um Zahlen, Fakten und wissenschaftliche Theorien. Aber die Menschen gehen unter.
Dafür sind Sie zuständig.
Genau. «Neuland» ist kein politischer Film. Vielleicht redet man politisch darüber, von mir aus, aber es ist ein Film über Menschen. Das ist ein grosser Unterschied, auch wenn es keiner sein dürfte.
War das mal anders?
«La barque n’est pas pleine» stellt eine Situation aus den 70er-Jahren nach, als Tausende von chilenischen Flüchtlingen nach dem Putsch nach Europa kamen und die Schweiz um Asyl baten. Der damalige Bundesrat, es war die Zeit von Kurt Furgler, sagte: Wir nehmen 200 Flüchtlinge auf. Das fanden viele Schweizer so lächerlich, dass sie sich zusammentaten und die «Freiplatzaktion» starteten. Sie luden die Flüchtlinge zu sich nach Hause ein und es konnten 2000 Chilenen mehr einreisen. Die sassen dann zusammen da, Chilenen und Schweizer, und haben Znacht gegessen. Da trafen sich Politik und Menschlichkeit.
Wäre so was heute noch möglich?
Schwer denkbar. Da ist unglaublich viel verloren gegangen. Was man aber auch sagen muss: Wir reden so negativ, doch die Hälfte der Bevölkerung hat Nein gestimmt. Das ist wichtig und auch ein Grund zu Hoffnung. In anderen Ländern wären es sogar weniger gewesen, das haben die Umfragen gezeigt.
Der Lehrer Christian Zingg ist der Held in «Neuland». Ist er jetzt ein Star?
Oh ja! (lacht) Er bekommt manchmal Besuch von Leuten, die ihn mal in echt sehen wollen. An einer Vorführung in Saarbrücken rief eine Frau aus dem Publikum zu ihm runter: «Herr Zingg, Sie sind ein Held!»
Wie schmeckt ihm der Ruhm?
Er sagt, es sei das grösste Geschenk in seinem Leben, dass ein Film über seine Arbeit und die Kids gemacht wurde. Er liebt den Film. Zugleich ist das Drumherum auch für ihn emotional erschöpfend.
Werden Sie sich weiter mit dem Thema Migration beschäfigen?
Ich habe ein paar Ideen, und das eine knüpft immer an das andere an. Was konkret daraus wird, das weiss ich noch nicht.
Sie sagten vorhin, Sie hätten keine Lust auf ein politische Diskussion. Warum?
Es ist nicht so, dass ich keine Lust habe. Ich werde jedoch dauernd als Expertin für dieses Thema angesprochen, und das bin ich nicht.
Ich habe meine Erfahrung mit der Klasse während dieser zwei Jahre gemacht, mehr Erfahrung habe ich nicht. Christian Zingg arbeitet mit Migranten und durchlebt seit 20 Jahren, was Integration heisst. Aber auch er ist kein Politiker.
Das Thema ist jetzt hochaktuell geworden, deswegen saugen wir den Film auf wie ein Schwamm.
Klar! Ich finde es wichtig und toll, wenn der Film zur Debatte beiträgt. Nur wenn ich öffentlich nach meiner Meinung zur Abstimmung gefragt werde, ist es mir ein bisschen unangenehm.
Gerade die politische Gegenbewegung hat letztlich nicht verfangen, deswegen frage ich Sie.
Es haben mehrheitlich ländliche Gemeinden Ja gestimmt. Ich bin zwar in einer solchen aufgewachsen, aber für mich ist es oft eine fremde Welt. Ich war letzthin an einer Gemeindeversammlung in Maisprach und da – nein, das sage ich jetzt nicht. Ich verrate nicht mein Dorf (lacht). Jedenfalls, die Leute ticken anders, und das ist auch schön! Aber es ist eine unglaublich kleine Welt. Einer stand auf und sagte: «Was ist mit den zwei Birken am Bach passiert? Da sind tolle Birken, ich laufe da seit Jahren durch, plötzlich wurden sie abgeholzt.» Der Gemeindevorsteher antwortete, das werde prophylaktisch gemacht wegen dem Borkenkäfer. Der Mann hat sich furchtbar aufgeregt. Ich habe keine Birken als Freunde. Hier in der Stadt fällt mir das doch nicht auf. Den Menschen dort schon, das sind Bauern, die immer am gleichen Ort sind. Das ist eine andere Welt, und die Mehrheit der Schweiz besteht daraus. Und die fühlen sich dann halt bedroht vom grossen Unbekannten.
Und die Städter?
Wir sind Weltenbummler. An der Gemeindeversammlung wurde mir klar, wie verschieden diese Welten sind.