Amélie Niermeyer schafft mit ihrem blendend aufspielenden Ensemble mit Ibsens «Die Wildente» im Schauspielhaus des Theater Basel einen ungemein dichten und berührenden Bilderbogen einer unschönen heilen Welt, die dem Zusammenbruch geweiht ist.
Es ist eigentlich ein fieses Stück: In Henrik Ibsens «Die Wildente» gibt es keinen Helden, mit dem man sich identifizieren kann, keinen richtigen Bösewicht, nur Zyniker, Rechenschaftsfanatiker und Opfer. Es ist eine unschön heile Welt aus Lügengebilden, die die Welt einigermassen zusammenhalten und das eigentlich hehre Streben nach Wahrheit, das sie zusammenbrechen lässt.
Erzählt wird die tragische Geschichte der Familie Ekdal, der einst böses Unrecht geschehen ist und die sich nur durch gnadenlose Lebenslügen über Wasser halten kann. Vorgeführt wird, wie diese Scheinwelt mit einem fanatischen Aufklärer konfrontiert wird, der nur das Gute will und dadurch erst recht das Böse schafft.
Das Mädchen Hedvig im Zentrum
Amélie Niermeyer stellt auf der Bühne des Basler Schauspielhauses die einzig schuldlose Figur des Unglücksreigens ins Zentrum ihrer Inszenierung. Es ist dies die 14-jährige Tochter Hedvig, eine Art Gegen-Pippi-Langstrumpf, die sich ihre heile Welt so malt beziehungsweise kritzelt, wie sie ihr gefällt. Hedwig, das ist die junge Schauspielerin Elisa Plüss, die sich beim Schlussapplaus zurecht mit Bravo-Rufen feiern lassen konnte.
So schafft sie im wörtlichen Sinne den Rahmen für diese Scheinwelten, die über zwei Hellraumprojektoren auf drei nackte grosse mobile Stellwände auf der Bühne (Bühne: Nikolaus Porz) gekritzelt werden. In der Vorstellung dieses Kindes verwandelt sich das Anwesen des Grosshändlers Werle in einen Palast mit einem prächtigen Kronleuchter, strömen aus den Schornsteinen der Fabrik wüste schwarze Rauchwolken, wird aus dem lächerlichen Modell-Jagdrevier des Grossvaters im Dachstock ein währschafter Wald.
Herzzerreissende Kindlichkeit
Mit herzzerreissend trotziger, aber ganz und gar nicht aufgesetzter Kindlichkeit, kämpt sie mit Zeichenstift und ihrer ganzen Kraft darum, dass die heile Welt nicht zusammenbricht. Und wenn sich Unheil anbahnt, singt sie mit ihrer wunderschönen Mädchenstimme dagegen an, bis die Familie mit einstimmt und die Wogen sich wieder glätten. «Who’ll come with me? / Don’t be afraid I know the way.» Von ihr gesungen wird aus dem Kitsch des «David’s Song» der Kelly Family ein echt berührender Moment.
Hedvig muss oft in das brüchige Gefüge eingreifen. Ihr (vermeintlicher) Vater (Martin Hug) ist ein Versager erster Güte. Als Fotograf ohne Berufung ist er erfolglos, als Möchtegern-Erfinder erst recht. Nicht einmal in seinen Wintermantel zu steigen schafft er ohne Hilfe seiner Ehefrau Gina (Inga Eikemeier), die ein dunkles Geheimnis in sich trägt und mit ihrem Fummel mit Leopardenmuster, hochhackigen Schuhen und der ungepflegt blondierten Mähne der Zeit nachtrauert, als sie als Frau noch Begehrlichkeiten wecken konnte.
Da gibt es den gefallenen Gossvater Ekdal (Andrea Bettini), der in der Basler Inszenierung endgültig zur jämmerlichen Figur mutiert ist. Und Gregers Werle (Götz Schulze), Ekdals ehemaliger Schulfreund, der nach vielen Jahren zurückkehrt, um die Ekdals aus ihrer Scheinwelt zu reissen und sich damit auch von der Erbsünde seines zynischen Vaters (Dieter Mann), der seine letzten Tage mit der lasziven Haushälterin Sørby (Christiane Rossbach) verbringen möchte, zu befreien, obschon der Arzt Relling (Florian Müller-Morungen) vor dem zerstörerischen «Rechtschaffenheitsfieber» warnt.
Scharfgezeichnete Charaktere
Es sind allesamt scharf und detailreich gezeichnete Charaktere, die Niermeyer in ihre ausgesprochen dichte und stimmige Inszenierung packt. Jede Bewegung, jeder Tonfall sitzt und schafft es, die Zuschauerinnen und Zuschauer mit einer Geschichte mitzureissen, die man, wenn man den oft gespielten Ibsen-Klassiker schon einmal gesehen hat oder ihn in der Schule lesen musste, bereits kennt.
Der Regisseurin und ihrem wunderbaren Ensemble gelingt das Kunststück, das Drama von seiner bleiernen nordischen Schwere zu befreien, ohne es mit ironischer Distanz zu verraten. Wie Hedvig im Stück griff Niermeyer in ihrer Inszenierung zum feinen Zeichenstift, der letztlich berührendere Bild- und Seelenwelten entstehen lassen kann, als wenn man zum dicken, farbdurchdrängten Pinsel gegriffen hätte.