«Ich denke immer filmisch»

Am 11. April feiert Filmregisseurin Bettina Oberli mit «Anna Karenina» im Basler Schauspielhaus ihre Theaterpremiere. Ein Gespräch über Erwartungen und Erfahrungen, Freuden und Ängste.

Bettina Oberli im Schauspielhaus Basel. (Bild: Roland Schmid)

Am 11. April feiert Filmregisseurin Bettina Oberli mit «Anna Karenina» im Basler Schauspielhaus ihre Theaterpremiere. Ein Gespräch über Erwartungen und Erfahrungen, Freuden und Ängste.

Bettina Oberli kommt eben von der fensterlosen Probebühne des Theaters. Ihre Augen suchen, während wir miteinander sprechen, neugierig Halt – bei ihrem Sohn, bei Passanten, die vorbeigehen, beim Rapper Kutti MC, der am nächsten Tisch wartet, und bei dem grau verhangenen Himmel über uns. Bettina Oberli ist auf dem Sprung zu ein paar Stunden Erholung zwischendurch – in der nahen verregneten Franche-Comté. Bald ist die Première ihrer «Anna Karenina»-Inszenierung im Theater Basel.

Warum tut sich eine der erfolgreichsten Schweizer Filmregisseurin das an, in dunkeln Räumen mit Schauspielern zu eine Geschichte einer Frau zu erzählen, die sich umbringt,weil die Gesellschaft des vorrevolutionären Russland ihre Liebeswahl nicht akzeptiert?

Ich bin angefragt worden.

Ingmar Bergman machte in seinen Jahren als Theaterdirektor drei bis vier Theaterinszenierungen und einen Film pro Jahr. Kann Bettina Oberli das auch?

Erst einmal dachte ich, nein, Theater kann ich nicht. Filmemachen ist nicht Theatermachen. Aber dann hat mich eben dies begonnen zu reizen. Weil es so anders ist.

Theater, sagte Ingmar Bergman, sei wie eine Ehe. Filmemachen wie eine Liebschaft.

Das hat was. Wenn ich in einer Filmproduktion bin, muss ich auf viel mehr achten als nur die Schauspieler. Kamera. Licht. Allumfassend. Im Theater gibt es die Schauspieler und den Raum und den Text. Das ergibt eine ganz andere Konzentration, eine andere Tiefe in der Begegnung. Man baut die Architektur des Abends gemeinsam. Film ist eine viel einsamere Arbeit. Das Drehbuchschreiben findet alleine statt. Die Dreharbeiten sind sehr verstückelt, laufen nicht in chronologischer Reihenfolge ab, jeder Aspekt muss im Augenblick entschieden werden, die Orte wechseln andauernd, die Figuren des Filmes sehen sich nur kurz vor der Kamera, aber im Leben kaum. Dann folgt der Schnitt, wo ich ebenfalls auf mich gestellt bin. Im Theater sind wir ein Team. Film ist eher eine Party, bei der ich die Gastgeberin bin.

Im Theater lerne ich eine neue Angst kennen: Wie kann ich den guten Moment wieder herstellen?

Heisst das, die Schauspielerinnen kriegen eine andere Aufmerksamkeit von Bettina Oberli in der Theaterarbeit als in der Filmarbeit?

Definitiv. Es gibt eine viel grössere Reibung, die zum Teil auch unangenehm ist. Für einen Film werden Figuren nur wenig geprobt und immer bin ich es, die mit den Schauspielern arbeitet. Im Theater arbeiten die Schauspieler viel mehr miteinander, und erlauben mir viel mehr, ihnen erst einmal zuzuschauen.

Auf der Suche nach dem besten Augenblick?

Ja, im Film braucht es den guten Augenblick ein einziges Mal. Wenn ich ihn mit der Kamera einfange, habe ich ihn für immer gebannt. Im Theater lerne ich eine neue Angst kennen: Wie kann ich den guten Moment wieder herstellen? Das ist wie ein Konditionstraining.

Arbeiten Schauspielerinnen im Theater anders als im Film?

Ich habe im Film immer mit grossen Theaterschauspielern gearbeitet: Julia Jentsch, Monica Bleibtreu, André Jung, Stefan Kurt und Annemarie Düringer. Es gab immer eine grosse Nähe zum Theater, die mir jetzt sehr hilft. Theaterschauspieler sind nicht so sehr auf Wirkung aus wie vor der Kamera. Sie nehmen an der Suche nach dem Werk teil. Sie sind auch an der Architektur des Abends beteiligt. Insbesondere aber an der Wahrhaftigkeit des Augenblicks. Filmschauspieler bringen ein phänomenales Gefühl für einen einzigen Moment mit. Am Theater müssen Schauspieler hingegen während des ganzen Tages präsent sein.

Was bedeutet das für ihre Arbeit an der Rolle?

Weil Theaterschauspieler jeden Augenblick wiederherstellen müssen, verwandeln sie sich über den Text oder über den Körper langsam in die Figur. Das bedeutet, dass sie mich auf der Suche nach dem Stoff immer mehr in der Figur begleiten.

Sie sprechen von Stoff. Anna Karenina von Tolstoj ist ein gewaltiger Roman. Strindberg empfahl, bei dessen Lektüre ein Personenverzeichnis anzulegen und nicht erstaunt zu sein, wenn es dicker werde als der Roman selbst. Wie viele Schauspielerinnen sind in der Produktion?

Sieben plus der Rapper Kutti MC, der mit einem poetischen Kommentar als Diener durch den Abend geleitet.

Wie konzentriert man diesen Stoff auf dieses Personal?

Die Fassung von Armin Petras konzentriert den Fokus auf die drei Modelle der Liebe, die der Roman diskutiert: Da gibt es die erkaltete Liebes-Ehe, es gibt die arrangierte Vernunft-Ehe, und es gibt die Kulissen-Ehe, die nur den gesellschaftlichen Schein aufrecht erhält. Der Roman stellt diese Beziehungen in den Kontext des vorrevolutionären Zarenreiches. Wir konzentrieren uns auf die Verflechtungen der drei Paare.

Die zu der herrschenden Klasse gehören.

Was uns an diesen Paaren interessiert ist diese innere Spannung: Das Hin- und Hergerissensein zwischen der Sehnsucht nach Freiheit und dem Bedürfnis nach Geborgenheit. Wagnis versus Sicherheit.

In der Liebe…

Wie im Leben.  

Tolstoj entwickelt die Figuren aus einer tief empfunden Psychologie. Armin Petras setzt eine starke Form dagegen.

Das ergibt eine tolle Spannung. Tolstoj hat diesen Roman zum ersten Mal in kleinen Etappen in einer Zeitung veröffentlicht. Die Leserschaft konnte Schritt für Schritt in die Geschichte des Romans folgen. Wer heute diesen 1200 Seiten gerecht werden will, muss sich entscheiden. Die ganze Fülle des Romans auf die Bühne zu bringen, ist schlicht unmöglich. Wir haben uns also auf die für uns wichtige Entwicklung der Paare konzentriert, vor dem Hintergrund dieser enorm sinnlichen und leidenschaftlichen russischen Gesellschaft. Es herrschte Unruhe unter den Leibeignenen, und Orientierungslosigkeit in der herrschenden Klasse. Anna musste sich mitten in ihrem in Frage gestellten Reichtum plötzlich die Frage stellen, wie führe ich mein Leben? Sie musste sich für eine neue Lebensform entscheiden. Wie die Gesellschaft um sie herum. Die Menschen lebten damals in einer Welt im Umbruch. Sie spürten, dass sie obsolet werden. Und Anna Karenina handelte, als Frau, indem sie die Freiheit in der Liebe lebte. Sie forderte ihre Freiheit ein. Sie wollte aber dafür nicht bezahlen.

Theater öffnet ganz andere Assoziationsräume als der Film.

Sie muss es aber schliesslich dann doch tun.

Ihre Geschichte ist wie ein Spiegel, der im Kleinen wiedergibt, was im Grossen abläuft. Über die kleine Gruppe von Menschen erlauben wir uns, an diese Überforderung zu erinnern: Die herrschende Klasse kann sich nicht selber abschaffen. Wir fügen da zu Petras den gesellschaftlichen Kontext dazu. Was im Kleinen geschieht, ist wie eine Vorwegnahme der grossen Ereignisse, die folgen. Tolstoj hat als Christ und Sozialist die Lösung in einer Gesellschaft gesucht, die den Ausgleich zwischen Arm und Reich schafft. Er hat klar erkannt, dass es zum Zusammenbruch des Zarismus kommen wird.

Wir haben Anna Karenina kürzlich wieder einmal im Kino sehen können. Der Film hat den Stoff in eine gross angelegte Theaterparabel übersetzt. Werden Sie ihn im Theater mit filmischen Mitteln umsetzen?

Nein. Es gibt ein paar wenige Projektionen. Aber ansonsten suche ich in unserem Raum nach Bildern, mit unserem Team, mit unserem Text. Theater öffnet ganz andere Assoziationsräume als der Film. Ich denke zwar immer filmisch. Das kann ich nicht ablegen. Das betrifft aber Fragen des Rhythmus. Das betrifft Fragen der Montage. Die sind so auch auf die Bühne zu übertragen. Der Text bietet zum Beispiel viele Perspektivenwechsel. Die Figuren erzählen in der dritten Person über sich. Sie drücken ihre Gefühle aus, als sprächen sie von einer anderen Person. Das ist wie ein Kamerastandpunkt, der wechselt. Tolstoj erzählt den letzten Wunsch von Anna, am Ball teilzunehmen, aus der Perspektive von Bronski. Plötzlich sehen wir von aussen auf die Figur.

Anna Karenina ist die Titelfigur. Ist sie auch die Hauptfigur?

Jede Figur kann uns einleuchtend begründen, warum ihre Entscheidung richtig ist. Dennoch scheitern sie alle. Ich will die Beweggründe aller verständlich machen. Klar liegen die Sympathien Tolstojs bei Anna. Dennoch hat er sich in der Figur des Lewin sicher besser wieder erkannt. Tolstoj war ja selber auch nicht gerade ein einfacher Mensch. Er sieht ja schon rein äusserlich aus wie das Oberhaupt einer Sekte – gottähnlich.

Sie haben mit Kutti MC einen praktischen Poeten im Team. Rappt er?

Er ist so etwas wie ein griechischer Chor. Er ist kein Schauspieler im Sinne einer Rolle. Er ist, wie alle anderen übrigens auch, immer auf der Bühne, gibt aber eine Art Aussenblick. Der ganze Roman spielt in der herrschenden Klasse. Ausgespart werden hierbei das ganze Heer der Rittmeister, Zofen, Stiefelmeister, Knechte, Gärtner, Köchinnen etc. Alleine ein derart kompliziert geknöpftes Kleid, wie Anna es trug, machte enorm viel Personal erforderlich. Kutti steht also für die Diener, all jene, die den Herrschenden ermöglichen, überhaupt zu leben, die sehr wohl alles mitkriegen, die es in der damaligen Literatur aber noch nicht kommentieren konnten: Er tut es mit seinen Worten für uns auf der Bühne.

Das ist der schlimmste Augenblick beim Filmemachen, wenn ich weiss, dass alles im Kasten ist. Dass nichts mehr dazukommen kann.

Die Premiere steht bevor. Dann werden Sie den Abend den Schauspielerinnen überlassen.

Es ist meine erste Theater-Regie. Das hat mich sehr gereizt. Acht Wochen Proben machen ein Resultat rascher sichtbar. Man hat das Ergebnis immer vor Augen. Man ist in einer ganz anderen Spannung. Wenn ich einen Film mache, dauert der ganze Prozess mindestens drei Jahre. In wechselnder Intensität. Geld suchen. Drehbuchschreiben. Drehorte suchen. Ich beneide andere Künstler, die einen höheren Takt haben. Filmen heisst nur während der Dreharbeiten: Täglich Premiere haben.

Wird sich durch diese Theaterarbeit an ihrer Herangehensweise für den nächsten Film etwas ändern?

Ich lerne zur Zeit extrem viel über die Arbeitsweise von Schauspielern. Hier im Theater sitze ich als Zuschauerin immer am gleichen Ort. Ich habe immer den gleichen Kamerawinkel. Ich bin mir im Theater auch immer bewusst, dass ich im Theater mit anderen Zuschauerinnen sitze. Ich kann jederzeit die Veränderung wieder erfahren. Wenn ich einen Film im Schneideraum habe, kann ich am Spiel der Schauspieler nichts mehr verändern. Das ist der schlimmste Augenblick beim Filmemachen, wenn ich weiss, dass alles im Kasten ist. Dass nichts mehr dazukommen kann. Im Theater schwebt immer ein Hauch von Veränderbarkeit mit.

Welchen Paaren empfehlen Sie den Theaterbesuch: Den Frischverliebten, den langjährig Zusammenlebenden, oder jenen, die über eine Trennung beginnen nachzudenken?

Sie werden sich etwas aussuchen, je nachdem, wo sie stehen.

Danach wartet der nächste Film. Wieder mit Theaterschauspielern?

Stefan Kurt und Annemarie Düringer und andere, ja, klar.

Wie ist der Titel des Films?

Der neue Film mit Annemarie Düringer und Stefan Kurt heisst «Lovely Louise» und wird im September Première haben.

Jetzt sind wir erst einmal auf ihre Theater-Premiere gespannt.

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