Im Bann des Magiers

Der Franzose Georges Méliès hat als Erster den grossen Zauber des Films in die Öffentlichkeit getragen. Jetzt wird sein Werk wiederentdeckt.

Der Franzose Georges Méliès wurde der erste Tycoon der Filmgeschichte. (Bild: zVg)

Der Franzose Georges Méliès hat als Erster den grossen Zauber des Films in die Öffentlichkeit getragen. Jetzt wird sein Werk wiederentdeckt.

Einmal mehr ist die zeitgenössische Populärkultur dort am spannendsten, wo sie sich ihrer Ursprünge erinnert. Im Kino macht der Stummfilm «The Artist» Furore und stellt damit klar, wie vielschichtig das angeblich so naive Kino der 1920er-Jahre war. Und nun gehen der Meisterregisseur Martin Scorsese sowie das französische Easy-Listening-Duo Air noch weiter zurück und zollen auf unterschiedliche Weise dem Filmpionier Georges Méliès Tribut: In Scorseses 3D-Spektakel «Hugo» ist Méliès die eigentliche Hauptfigur, zeitgleich bringen Air das Album «Le voyage dans la lune» in die Läden, ein frischer Soundtrack zum ersten Science-Fiction-Film aller Zeiten, dessen handkolorierte Fassung erst jüngst restauriert wurde.

Geisterhafte Existenz

Méliès, dieser brillante Urgrossvater des filmischen Mediums, scheint lebendig wie nie zuvor – obschon er schon 1938 zu Grabe getragen wurde. Für Wiederauferstehungen eignet er sich bestens, hat er doch schon zu Lebzeiten gerne eine geisterhafte Existenz geführt. Im Kurzfilm «Un homme de têtes» von 1898 beispielsweise sehen wir, wie sich Méliès den eigenen Kopf abreisst, diesen auf einen Tisch legt und darauf flugs drei weitere Köpfe herbeizaubert, damit er mit sich selbst im Quartett singen kann. Er ahnte damals noch nicht, dass ihn das neue Medium tatsächlich noch Kopf und Kragen kosten würde.

Méliès, 1861 in Paris geboren, war bereits ein berühmter Magier, ehe er sich dem eben erst erfundenen Film zuwandte. Aus einer Schuhmacherfamilie stammend, hatte Georges schon immer lieber Puppentheater und Maschinen zusammengebastelt als Ledersohlen angenäht. Und als später seine beiden Brüder den väterlichen Schuhmacherbetrieb erbten, übernahm Georges mit seinem Erbanteil lieber eine andere Fabrik: die Traum-Fabrik des Zaubertheaters, das Théâtre Robert-Houdin.

Verrückte Kapriolen

Méliès war Regisseur, Produzent, Autor, Schauspieler, Kostümdesigner in Personalunion und nicht zuletzt findiger Ingenieur von immer neuen Zaubertricks, ehe er am 28. Dezember 1895 die grösste Illusion von allen entdecken sollte: den Film. Die Brüder Auguste und Louis Lumière hatten zur allerersten Filmvorführung im Salon Indien du Grand Café geladen, Méliès sass im Publikum und erahnte sogleich das sagenhafte Potenzial des neuen Mediums.

Der Zauberer wollte den Lumière-Brüdern ihren Kinematografen kurzerhand abkaufen, diese lehnten aber ab mit dem Hinweis, mit bewegten Bildern sei ohnehin kein Geld zu machen. Doch Méliès wusste es besser, bastelte sich zu Hause seinen eigenen Filmapparat zusammen und machte aus dem Théâtre Robert-Houdin das erste öffentliche Kino und aus sich selbst den ersten Filmtycoon der Geschichte. Über 500 Filme hat Méliès in den Jahren zwischen 1896 und 1913 gedreht und dabei entdeckt, zu welchen verrückten Kapriolen das neue Medium fähig ist.

Hatte er zu Beginn bloss die eigenen Bühnennummern gefilmt, so kam er durch einen glücklichen Unfall darauf, dass der Film noch ganz neue Tricks auf Lager hat. Méliès hielt den Verkehr auf der Pariser Place de l’Opéra fest, da blieb der Filmstreifen in seinem Apparat plötzlich hängen. Als er den Film wieder freibekam, hatte sich in der verstrichenen Zeit der Verkehr weiterbewegt. Méliès schrieb darüber später: «Als ich mir den belichteten Film vorführte, sah ich an der Stelle, wo die Unterbrechung eingetreten war, wie sich ein Omnibus der Linie Madeleine–Bastille plötzlich in einen Leichenwagen verwandelte und wie Männer zu Frauen wurden. Der Trick war gefunden, und zwei Tage später begann ich damit, Männer in Frauen zu verwandeln und Dinge plötzlich verschwinden zu lassen.»

Magischer Vordenker

Die bewegten Fotografien schaffen lebensechte Abbildungen. Das hatten die Lumières noch geglaubt, als sie dem Publikum ihre dokumentarischen Aufnahmen vorführten. Méliès hingegen sah ein, dass der Filmapparat nicht nur Realität reproduzieren, sondern diese sogar transformieren kann. Hier oder dort, davor oder danach – Kamera und Projektor hebeln die physikalischen Gesetze aus.

In «Le locataire diabolique» zieht Méliès die ganze Inneneinrichtung eines Zimmers mitsamt einer mehrköpfigen Familie und Bediensteten aus seiner Reisetasche, in «Nouvelles luttes extravagantes» reisst ein Boxer seinem Gegner Arme und Beine aus, dieser aber setzt sich alsbald wieder zusammen und kämpft weiter.

Fast scheint es, als habe seither das Kino immer nur ausbuchstabiert, was Méliès schon erfunden hatte: Von «Star Wars» bis «Inception» – sie alle zehren von seinen Erfindungen. Und auch auf dem Mond war Méliès mit seiner Kamera schon 67 Jahre vor Neil Armstrong.

Tragischer Abstieg

Doch so sehr sich der Filmemacher auch auf der Leinwand über alle Grenzen hinwegsetzte: Die Realität hat sich an ihm auf ihre Art gerächt. Der Pionier, der schon 1902 eine Filiale für den Filmvertrieb in New York hatte, wurde von der internationalen Film­industrie, die er selbst mit ins Leben gerufen hatte, überrollt. Das grosse Geld machten andere. Thomas Edison etwa, der es verstanden hatte, mit seiner Patent-Firma die amerikanische und europäische Filmproduktion zu kontrollieren.

Im Ersten Weltkrieg schliesslich konfiszierte das französische Militär über 400 Kopien von Méliès’ Filmen, um sie einzuschmelzen. Welch Ironie des Schicksals: Méliès, der nie Schuhmacher sein wollte, musste miterleben, wie man aus dem Rohmaterial seiner Filme Absätze für Soldatenstiefel machte. Mitte der Zwanzigerjahre schliesslich, vergessen von der Welt, fristet der grosse Méliès sein Leben als Süssigkeiten- und Spielzeugverkäufer in einem kleinen Kiosk am Bahnhof Montparnasse, «ein Kühlschrank im Winter und ein Ofen im Sommer» wie er in einem Brief schrieb.
Wie in einem seiner Filme war aus dem grossen Entertainer unversehens ein armer Schlucker geworden. Immerhin wird der Pionier noch vor Lebensende von Journalisten aufgespürt und erhält 1931 den Orden der Ehrenlegion.

Doch auch ohne solche Auszeichnungen ist ihm ein Nachleben sicher. Denn wann immer das Kino uns verzaubert, indem es das Unmögliche möglich macht, sind es seine Zaubersprüche, die da wirken. Der Magier lebt weiter. Alle, die ins Kino gehen, stehen auf ewig in seinem Bann und in seiner Schuld.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 03.02.12

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