Im Innern eines kreativen Glaskastens



Die Jazzwerkstatt Bern zieht in ihrer sechsten Ausgabe ein überraschend junges Publikum an – und spannt den Begriff «Jazz» von HipHop bis Klassik.

(Bild: Palma Fiacco, zVg)



Die Jazzwerkstatt Bern zieht in ihrer sechsten Ausgabe ein überraschend junges Publikum an – und spannt den Begriff «Jazz» von HipHop bis Klassik.

Auf einem Teppich stehen Spielzeugroboter, Kinderradios, Aufziehautos. Drumherum gruppiert ein E-Bass mit Trommelkorpus, als Saitenobjekt hält auch ein ausgewaideter Tennisschläger her, eine Stromgitarre am Bühnenrand hat man geköpft, zwei Instrumente draus gemacht. Die geisterhafte Szenerie ist mit Schirmlämpchen ausgeleuchtet. Damit kein Irrtum aufkommt: Wir sind hier nicht im Gebrauchtwarenlager, sondern an der Jazzwerkstatt Bern, und schon legt das Kollektiv Troika Trash los.

Wisperndes Fiepen von den Spielzeugen, Collagen aus Radiosendern, bald ein gewaltiges Rock-Ostinato, das dem ekstatischen Spoken Word-Mann Max Usata, der mal nach jammerndem Rapper, mal nach Robert Johnson auf Speed tönt, als Unterbau dient. Exotische Flöten und jaulende Synthsounds funken dazwischen. Überraschend, wie die fünf aus ihrem schrottigen Arsenal eine doch stringente Dramaturgie zwischen HipHop, Progrock und archaischem Blues zimmern.

(Bild: Palma Fiacco, zVg)



Keine fertige Politur



In Bern ist die Definition für Jazz während dieser fünf Tage weit gesteckt, vielleicht weiter als irgendwo in der Schweiz. Das ist die Philosophie der Veranstaltung in der Turnhalle des PROGR, die heuer zum sechsten Mal statt findet. «Nicht immer weiss man vorher, was passieren wird, es kann ein Konzert in eine völlig unerwartete Richtung gehen, oder auch komplett in die Hose», sagt Andreas Schaerer, Mitbegründer der Werkstatt und Vokalist bei der Formation Hildegard Lernt Fliegen. «Aber das weiss unser Publikum, es schätzt die Ehrlichkeit der Musik. Vielleicht erfüllen wir auch das Bedürfnis, das man im digitalen Zeitalter etwas sucht, was noch nicht fertig poliert ist.»

Die Grundidee: Musiker lösen sich aus ihren üblichen Bands heraus, gehen Ad hoc-Partnerschaften ein, das Programm wird teils erst in öffentlichen Proben erarbeitet: der gläserne Jazzer. Es ist keine innerschweizerische Angelegenheit: In diesem Jahr hat man die Bande bis nach Schweden, Panama, Südafrika, Chicago und Tulsa gesponnen. Und wo könnte ein solches Konzept besser hinpassen als in dieses ehemalige Gymnasium, dessen weitläufige Räumlichkeiten nun 100 Künstler als kreatives Bienenhaus nutzen, wo Werden und Entstehen zur neuen DNA in alten Mauern wurde. 



Rap unterm Engelsflügel, Romantik und Country 



Aus den Katakomben dringt ein markanter Rap, der sich aber mit folkigen Gitarren und fast barocker Melancholie paart. Hinter der schweren Tür zum Proberaum offenbart sich ein grandioses Bild: Mit Wollmütze und krautigem Bart lotst der Londoner MC und Saxophonist Soweto Kinch unter einem goldenen Engel seine Verse ins Mikro, sein Schweizer Mitmusiker Bernhard Bamert an der Posaune notiert die Melodieverläufe. Ein Stockwerk höher staunt Chris Combs, mit welcher Auffassungsgabe seine Kompositionen von den elf Mitgliedern des für ihn zusammengestellten Large Ensemble verdaut werden. Man verständigt sich über rhythmische Feinheiten und Tempi, ein Streichquartett trifft auf die freien Impros eines Bläservierers, und speziell die klassisch geprägten Musiker haben einen Heidenspass am für sie ungewohnten Setting.

«Ich habe keine Dogmen», sagt der Lapsteel-Gitarrist aus Tulsa, sichtlich angetan von der Werkstatt-Atmosphäre. «Deshalb war es für mich Freude und Herausforderung zugleich, meine Liebe für Beethoven und Mahler mit moderner Musik zusammenzubringen. Ich lasse in meiner Partitur Raum, damit die Persönlichkeiten strahlen und etwas passiert, was nur mit diesen speziellen Musikern entstehen kann.» Der Auftritt seines Ensembles wird dann auch zum Highlight, mit einer zwölfköpfigen Combo, die zwischen New Orleans, Country und europäischer Romantik atmet, kakophone, brodelnde Dichte in ein zärtliches Lapsteel-Solo münden lässt.


(Bild: Palma Fiacco, zVg)


Der Basler Altmeister in Bern 



Momentan haben die Berner eine Ausnahmestellung in der Schweiz. Angeregt wurden sie durch die Jazzwerkstatt Wien, in Zürich hat man es auch versucht, pausiert aber dieses Jahr. Wäre so ein freigeistiger Gipfel auch in Basel möglich? Der Grandseigneur des Saxophons, Andy Scherrer, der sich hier als «Gesandter» vom Rheinknie mit der generationenübergreifenden Projektband The Shrooms zu einem Set von kammermusikalischer Lyrik zusammenfindet: «Ich kann mir so ein Konzept sehr gut vorstellen im Kleinbasel, wo sich ja immer wieder Gruppen zu Jamsessions zusammenfinden.» Scherrer ist das erste Mal in Bern, erlebt aber als alter Hase noch Überraschungen: «Dass die Leute während der Probe zuschauen, das ist schon ungewohnt!»




Das grösste Aha-Erlebnis jedoch liefert ein Blick durchs Auditorium: Wüsste man es nicht besser, man wähnte sich an einem Rockkonzert, bei dem geringen Durchschnittsalter. «Eindrücklich», «visionär», sind die Worte, die ein Paar nach dem Konzert von Andreas Schaerer und Lucas Niggli gebraucht. «Das ist richtig reingefahren.»

Tatsächlich haben der Vokalist und der Schlagwerker kurz zuvor neue Massstäbe von Duo-Intensität gesetzt: Tirilierend, ploppend, blubbernd und knabbernd liebkost Schaerer das Mikro, er mimt die Klangfarben eines afrikanischen Sängers, plustert seine Stimme zum Monstrum auf, die sich in Fantasiesilben überschlägt – Beatboxing ist dagegen Zeitlupe. Und die Chemie mit Niggli ist verblüffend: In blindem Verständnis bearbeitet der seine Cymbaltürme, dreht mal nur an einem Reisigbesen, peitscht dann aber seine Trommlerseele in einem gewaltigen Gewitter heraus. «Wir sind froh, dass der Jazz lauter und freier wird», resümiert am Ende des Abends ein junger Besucher. Von solch einer Adoleszenz könnte die Basler Szene sich noch ein wenig abgucken.

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