Irgendein Wortspiel mit «App»

Noch hält der Sommer an, und damit auch unser Sommer-Slam, der heute mit dem deutschen Autoren Mischa-Sarim Vérollet in die neunte Runde geht. Für ihn galt es, die von Hazel Brugger hinterlassenen Wörter Nierenversagen, frigide, Sommersonnenwende, Grundausbildung und Frontalunterricht in seinen Text einzubauen – gäbe es doch nur eine App dafür!

Mischa-Sarim Verollet. (Bild: zVg)

Noch hält der Sommer an, und damit auch unser Sommer-Slam, der heute mit dem deutschen Autoren Mischa-Sarim Vérollet in die neunte Runde geht. Für ihn galt es, die von Hazel Brugger hinterlassenen Wörter Nierenversagen, frigide, Sommersonnenwende, Grundausbildung und Frontalunterricht in seinen Text einzubauen – gäbe es doch nur eine App dafür!

Eigentlich verbietet sich einem jungen Menschen wie mir ein ironischer Text über die Errungenschaften der modernen Technik – und im altehrwürdigen Kabarettbetrieb bin ich mit meinen 30 Lenzen nun mal nicht mehr als ein, wenn auch vielversprechendes, Ultraschallbild. Es bleibt den älteren Gesinnungsgenossen der Zunft überlassen, den Horst Evers, Nils Heinrichs und Torsten Sträters dieser Welt, mit dem greisen Blick und der Beratungsresistenz des kunstvoll überzeichnet zukunftsverweigernden Seniors, die Tücken des Fortschritts zu kommentieren und der Wählscheibe nachzutrauern. Klopft die Prostata und dräut das Nierenversagen, reizt der Blick zurück. Doch manchmal überrascht das Internet selbst mich, obgleich noch in der Dotcomblase vom Kinde zum Mann gereift, immer noch.

Letztens gedachte ich, in Berlin einen frühen Vogel zu nehmen, um einen Wurm zu fangen, sprich: nach Wien zu gelangen, wo es mich kürzlich samt Lebensgestaltungspartnerin, Hund und Katze hingezogen hat. Um überhaupt erstmal am Flughafen anzukommen, nehme ich in der Regel die Dienste des «Tegel Express» in Anspruch, dessen Fahrer die berüchtigte Johannesburger Vorort-Taxibus-Grundausbildung genossen haben und darauf gedrillt sind, dem Fahrgast eine authentische Nahtoderfahrung zu bescheren, damit dieser entspannt ins Flugzeug steige. Man gewöhnt sich daran. An jenem Morgen jedoch, es war grade fünf geworden, sah ich mich um die Uhrzeit ausserstande, ein solches Erlebnis entsprechend goutieren zu können. Ich beschloss, mein Wohl und Wehe in die Hände eines Taxifahrers zu legen.

Man darf dankbar sein, im 21. Jahrhundert zu leben. Neigt man wie ich zur Soziopathie und telefoniert bevorzugt nicht, ist man trotzdem nicht aufgeschmissen. Für fast alles gibt es heutzutage eine «App», mit der man via Smartphone die Dinge erledigen kann, für die gesegnetere Menschen Personal haben. Ich habe es ohnehin immer als grosse Ungerechtigkeit empfunden, dass mir zur Kontaktunfreude nicht auch gleich die entsprechenden Ressourcen in die Wiege gelegt wurden, um diesen Mangel auszugleichen. Gott sei Dank aber reicht es mittlerweile, die fehlende Kernkompetenz im Appstore zu googlen, und schon wird einem geholfen.

Als reisender Künstler ist die sogenannte «myTaxi»-App unabdingbar. Ein paar koordinierte Fingerwischer über das grosszügige Smartphone-Display reichen, und schon macht sich ein Taxi auf den Weg, um einen an das Ziel der Wahl zu bringen. Das finde ich toll, mehr erwarte ich gar nicht vom Leben, als dass es sich mir zu Füssen legt. So auch an jenem Morgen. Schlau, wie ich manchmal bin, hatte ich am Abend zuvor das Taxi vorbestellt und so stellte ich mich zehn Minuten vor der verabredeten Uhrzeit an die Strasse, sicher ist sicher. Mein Smartphone vibrierte. Eine Kurzmitteilung tat ihren Job und teilte mir mit, mein Fahrer sei benachrichtigt und auf dem Weg. Ein Klick brachte mich zur App, ein weiterer öffnete die Büchse der Pandora: Als sei ich bei einer Online-Partnervermittlung gelandet, wusste ich binnen kürzester Zeit bis auf die Blutgruppe, Berufswunsch und sexueller Vorlieben alles über meinen Fahrer, einen gewissen Sascha Schmidt. Direkt neben den Informationen grinste er mich zu allem Überfluss von einem grossformatigen Bild an. Da blieben keine Fragen offen. Und das, in Kürze, ist das Problem an der Zukunft: Man ist als Misanthrop heilfroh, der Zukunft sei Dank für überlebenswichtige Dienstleistungen nicht mehr telefonisch mit Menschen in Kontakt treten zu müssen. Und weiss dann trotzdem mehr als nach einem ausgiebigen Gespräch. Im wahren Leben schützt Small Talk vor ungewollter Intimität; das Internet, leider, hat diese Mauer niedergerissen.

Die Frage ist: Will man das? Will man vorab soviel über seinen Taxifahrer wissen? Die Geschichte lehrt uns, dass ein Plus an Optionen immer auch ein Mehr an Anspruch nach sich zieht. Was, wenn er mir womöglich nicht gefiele? Je mehr Auswahl ich im Leben habe, desto wählerischer werde ich, je älter ich werde, desto höher steigen meine Ansprüche wie unser Stern zur Sommersonnenwende. Schliesslich bin ich keine Zwanzig mehr, der Sensenmann winkt bereits vom Horizont, man will die verbleibende Zeit so sinnvoll wie möglich nutzen, und solche flüchtigen Bekanntschaften haben ja gerne mal einen nicht unerheblichen Einfluss auf das eigene Leben. Was, wenn mir das Foto des zugeteilten Taxifahrers nicht sympathisch wäre? Und was, wenn er es wäre? Und ich dann einstiege und er in keinster Weise seinem Foto entspräche? Das kennt man ja von Elitepartner.de, dass die hübsche Akademikerin im Alltag dann doch den Rahmen des Bikinis sprengt und einen in die Frigidität treibt. Würde ich diese Enttäuschung ertragen? Und wollte ich überhaupt vorher wissen, zu wem ich da morgens um fünf ins Auto stiege? Das ist doch das letzte kleine bisschen Nervenkitzel, dass einem paranoiden Menschen wie mir in Zeiten der allgemeinen Informationslage bleibt: Nicht zu wissen, wer und was einen wie erwartet. Will man auch diesem letzten Rest an Ungewissem Adieu sagen? Mit dieser App wäre mir zweifellos jene im Nachhinein unterhaltsame Anekdote verwehrt geblieben, als ein Leipziger Taxifahrer trotz klirrender Novemberkälte alle Autofenster herunterliess, da er schwerer Alkoholiker sei und mir seine Fahne nicht aufdrängen wolle. Es sind diese Erlebnisse, die einen nicht umbringen, aber hart machen. Die Taxi-App aber hätte mir schon bei der Bestellung den aktuellen Promillewert mitgeteilt und ich wäre zum Bahnhof gelaufen.

In ebenjener Taxi-App bewegte sich in indes am diesem Morgen unterhalb seines Profils ein kleines rotes Auto auf einer Karte wie weiland der Feind in «Das Boot». Mein Taxi! Es kam immer näher! Und ich war live dabei! Ich staunte. Mark Zuckerberg, der Verfassungsschutz und der FBI – sie hätten ihre helle Freude hieran gehabt. Nicht nur, dass ich wusste, wer mich erwartete: Ein Blick in die App teilte mir auch mit, wann ich ihn zu erwarten hatte. Die Kilometer, die uns noch voneinander trennten, die voraussichtliche Ankunftszeit, mit der ich zu rechnen habe, die Strecke, die er auf seinem Weg zu mir befuhr, all das stellte die App an Informationen zur Verfügung, sowie die Möglichkeit, den Fahrer zu bewerten.

Instinktiv tippte ich auf den Button. Das ist die alte Poetry-Slam-Schule, zehn Jahre Frontalunterricht in der Schule ohne eigene Beteiligung liessen mich nach Mitbestimmung dürsten, der angestaute Druck will exorziert werden, da kann man nichts machen, immerzu will man bewerten, entwerten und generell den werten Mitmenschen den eigenen Senf darreichen, da kommt man nicht gegen an. Und so vergab ich ohne zu überlegen im Eifer des Gefechts drei von fünf möglichen Sternen.

Sehr schnell kamen mir erste Zweifel ob meines vorzeitigen Bewertungsergusses. Immerhin sass ich noch gar nicht im Taxi. War ich etwas voreilig gewesen? Wie weit ging diese App? Datenschutzverletzungen sind ja nicht zwingend eine Einbahnstrasse. Wenn sie mich zu jedem Zeitpunkt beispielsweise über den Aufenthaltsort meines Fahrers informierte, hatte sie ihm in Gegenzug womöglich schon gesteckt, dass ich ihm nur drei von fünf möglichen Sternen gegeben hatte? Hatten ihre Recherchen ergeben, dass ausgerechnet ich, der ich einst in Schweinfurt lauthals gegen eine aus meiner Sicht ungerechtfertigten Poetryslam-Jurybewertung lautstark protestiert hatte, nur drei von fünf möglichen Sternen vergeben hatte, und würde sie mich damit konfrontieren? Und würde er, der er, wenn man seiner «Aggro Berlin»-Basecap Glauben schenken durfte, von hartem Berliner Strassenrap sozialisiert wurde, meine Bewertung gar als klassischen Diss missverstehen? Das gefiel mir überhaupt nicht. Ich blickte noch einmal auf das Foto. Er sah nicht aus wie jemand, der einem Diss ausschliesslich verbal begegnen würde. Ich hingegen sah aus wie jemand, der des Fahrers entsprechende Replik nicht überleben würde. Ich malte mir seine Ankunft aus. «Herr Vérollet, Sie haben das Taxi bestellt?» «Ja!» «Peng.»

«Herr Vérollet, Sie haben das Taxi bestellt?»

Ich schaute runter. Der blaue Punkt, der mich darstellen sollte, und das rote Taxi kuschelten innig auf dem Satellitenfoto der Taxi-App. Ich schaute hoch. Ja, das war Sascha Schmitz. Im Gegensatz zu Elitepartner log dieses Foto nicht. Ich nickte, zum Reden war ich nicht imstande. Ich fürchtete um mein Leben.

«Na, dann steigen Sie mal ein.»

Ich stieg ein. Seine Freundlichkeit war befremdlich. Hatte die App Gnade walten lassen? Das war kaum zu glauben. Das Internet verzeiht nie. Nein, es war offensichtlich: Auf offener Strasse würde er mir zwar nichts tun. Aber den Flughafen Tegel würde ich wohl auch nie erreichen. Ich schrieb meiner Liebsten eine Abschiedsnachricht, dachte ohne Reue an mein Leben zurück und öffnete dann den App-Store. Irgendwas für Testamente musste es dort doch auch geben.

Mischa-Sarim Vérollet wurde 1981 auf Gibraltar geboren, wuchs in Bielefeld auf, verzweifelte an Berlin und lebt mit Frau, Hund und Katze in Wien. Der Österreicher nennt den Stuhl Sessel, das gefällt ihm. Der anglodeutsche Autor und Lesekabarettist ist einer der bekanntesten Poetry Slammer Deutschlands und Mitglied der berühmt-berüchtigten Lesebühne LMBN. Seine Werke tragen Titel wie «Das Leben ist keine Waldorfschule» oder «Warum ich Angst vor Frauen habe» – die Gründe gehen nur seinen Psychotherapeuten etwas an. Die Stelle ist derzeit vakant. Initiativbewerbungen sind möglich auf www.mischa.tv
Für seine Nachfolgerin beim Sommer-Slam, Nora Gomringer, hält Vérollet folgende Wörter bereit:

– retrograd
– Hutband
– Ameisenbär
– Luftvolumen
– desavouieren

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