«Jane Eyre» – mehr als ein Frauenroman

Vor zweihundert Jahren wurde Charlotte Brontë geboren. Ihr Vermächtnis ist der Roman «Jane Eyre», heute ein Klassiker der englischen Literaturgeschichte. Trotz des Frauennamens im Titel ist die Liebesgeschichte auch für männliche Leser geeignet.

Scheu und unscheinbar: Jane Eyre (2011 verkörpert von Mia Wasikowska).

(Bild: ©Ascot Elite)

Vor zweihundert Jahren wurde Charlotte Brontë geboren. Ihr Vermächtnis ist der Roman «Jane Eyre», heute ein Klassiker der englischen Literaturgeschichte. Trotz des Frauennamens im Titel ist die Liebesgeschichte auch für männliche Leser geeignet.

Was für Mannsbilder! Die englische Literatur des 19. Jahrhunderts hat uns Typen wie Mr Fitzwilliam Darcy hinterlassen, den Archetypus des romantischen Helden aus Jane Austens «Stolz und Vorurteil». Vielfach kopiert, vielfach zitiert, mit Schmalzlocke und unwiderstehlichen Liebesgeständnissen. Schmacht.

Der stolze Aristokrat Darcy mag sich zu Beginn der Tarnung halber wie ein Ekel verhalten – doch Mr Rochester, Hausherr in Charlotte Brontës «Jane Eyre», ist eines. Und was für eines. Das macht ihn unendlich realer, als Darcy es je sein kann. Er lächelt nie, vernachlässigt sein Mündel, hat immer einen zynischen Spruch parat und für Jane Eyre, die er als Gouvernante ins Haus holt, selten ein nettes Wort übrig.

Und trotzdem macht der launische Mr Rochester, Vorname Edward, Mr Darcy den Titel als romantischster Held der englischen Literaturgeschichte streitig. Entgegen aller Erwartung gewinnt er – natürlich – Janes Herz. Ein wahrer Mann braucht wohl einfach mehr als gutes Aussehen und Charme. Hach.

Ob solcher Äusserungen romantischer Ergriffenheit mag es nicht erstaunen, dass frau bei Männern fragende Blicke unter hochgezogenen Augenbrauen erntet, wenn sie «Jane Eyre» für die Rubrik «Kultwerk» vorschlägt (Literaturwissenschaftler und Filmkritiker ausgenommen). Denn Männern ist dieses Stück Literatur meist fremd. «Frauenliteratur», meinte einer gar anmerken zu müssen.

Streben nach Freiheit

Mitnichten, liebe Männer! Ja, es ist eine Liebesgeschichte. Eine mehrfach verfilmte, wohlgemerkt. Es geht um Leidenschaft, die sich jedoch nur langsam entfacht. Zwischen zwei Menschen, mit denen das Schicksal es nicht gut gemeint hat. Eine Frau, eine Waise, die als Kind verstossen wurde. Die sich strebsam zur Lehrerin hochgearbeitet hat – kein schlechtes Los für eine Frau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Mann, der sich früh verheiratet hat, mit einer schönen, aber labilen Frau. Der nun büsst für diesen Fehler, der sich deshalb zurückgezogen hat.



Ein meist düsterer Geselle: Mr. Rochester, 2011 gespielt von Michael Fassbender.

Ein meist düsterer Geselle: Mr. Rochester, 2011 gespielt von Michael Fassbender. (Bild: ©Ascot Elite)

Beide Hauptfiguren haben vor allem eines im Sinn: Sie streben nach Freiheit. Suchen den richtigen Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Situation. So ist die Liebesgeschichte vielmehr die Geschichte zweier Seelenverwandter.

Es ist kein schönes Ambiente, in dem «Jane Eyre» spielt. In dieser von rigider viktorianischer Moral geprägten Welt möchte keine Frau leben. «Jane Eyre» ist ein düsteres Buch, durchzogen von Geheimnissen: Was rumpelt da auf dem Dachboden? Wer legt nachts Feuer in Mr Rochesters Schlafzimmer?

Schwieriger historischer Hintergrund

Die Antwort auf diese beiden Fragen hat die Literaturwissenschaftler weit mehr beschäftigt als der restliche Plot des Romans. Man erfährt sie erst spät im Buch, und sie lautet: Mr Rochesters erste Angetraute wars, Bertha Mason. Eine einst wunderschöne und vor allem reiche Frau, die er aus Jamaica mitgebracht hatte. Die aber an einer vererbten psychischen Krankheit litt, die schlimmer und schlimmer wurde, bis Mr Rochester keine andere Lösung fand, als sie auf dem Dachboden wegzusperren. (Wer ist hier das Monster?)

Bertha Mason ist eine Figur, die wegen ihrer kreolischen Abstammung verschiedene postkoloniale Debatten ausgelöst hat – und dies, obwohl Charlotte Brontë zu ihrer Abstammung gar nichts schreibt. Als problematisch wurde von Kritikern immer wieder die Verknüpfung von afrikanischem Blut mit wilder Verrücktheit aufgegriffen (in Brontës Worten ähnelt Masons Verhalten jenem eines wilden Tieres, auf allen Vieren, fauchend, unkontrollierbar).

Mehr als hundert Jahre nach Brontë, 1966, hat die Autorin Jean Rhys die Jugendgeschichte von Bertha Mason in ihrem Buch «Wide Sargasso Sea» aufgegriffen und auf feministischem Weg zu korrigieren versucht – und damit weitere Diskussionen ausgelöst.

Bei Weitem geht es also in «Jane Eyre» nicht nur um das Schicksal der titelgebenden Protagonistin und ihres Auserkorenen. Und der Klassiker ist darum, liebe Männer, weit mehr als ein Stück «Frauenliteratur».

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