«Jeder träumt davon, mal etwas Verrücktes zu machen»

Im Hafenareal geht mit «Cyclope» ein poetisches Artistikspektakel frei nach Jean Tinguely über die Openair-Bühne. Tinguelys ehemaliger Assistent, Seppi Imhof, erinnert sich an die Zeit, als er massgeblich beim Aufbau der Originalskulptur mithalf.

Zwanzig Jahre lang arbeitete Tinguelys Assistent Seppi Imhof am «Cyclop» im Wald von Milly-la-Forêt mit. (Bild: Michael Würtenberg)

Bis am 6. September geht auf dem Hafenareal mit «Cyclope» ein poetisches Artistikspektakel frei nach Jean Tinguely über die Openair-Bühne. Tinguelys ehemaliger Assistent, Seppi Imhof, erinnert sich im Gespräch an die Zeit, als er massgeblich beim Aufbau der Originalskulptur «Le Cyclop» in einem Wald bei Paris mithalf.

Man spürt, dass er die Geschichte schon oft erzählt hat, aber noch immer leuchtet aus seinen Augen eine schelmische Freude, wenn er sich daran erinnert, wie der Künstler Jean Tinguely und sein Schlosser Seppi Imhof zusammenkamen. Ausgangspunkt war ein Stelleninserat, das 1971 im «Berner Tagblatt» erschien: «Jean Tinguely sucht Bauschlosser oder Schlosser (Deutschschweizer), vielseitig und schwindelfrei, Autofahrer (Jasskenntnisse erwünscht), f.d. Konstruktion einer Riesenplastik in der Nähe von Paris für die Dauer von ca. 6 Monaten.»

Der ausgebildete Maschinenschlosser kannte den Namen Tinguely nicht wirklich gut, trotzdem meldete er sich auf das Inserat. Aus dieser ersten Begegnung entstand eine lebenslange enge Arbeitsbeziehung und Freundschaft.

Was hat Sie dazu bewogen, sich auf dieses Inserat zu melden?

Ich meldete mich, obschon ich eigentlich keinen Job suchte, aber ein halbes Jahr in Frankreich zu arbeiten, reizte mich. Innerhalb von nur fünf Minuten wurde alles geregelt, Jeannot setzte einen Vertrag auf. Als ich das erste Mal in den Wald bei Milly-la-Forêt kam, standen ein paar Eisenstangen herum, eine Notstromgruppe, etwas Werkzeug und ein Schweissgerät – viel mehr war noch nicht vorhanden. Rico Weber und Paul Wiedmer hatten bereits damit begonnen, im Wald an diesem Werk zu bricolieren. Es zeigte sich aber, dass sie alleine nicht zurande kamen. Also fing ich an, und aus dem halben wurde ein ganzes Jahr, wurden zwei, drei und noch mehr Jahre. Schliesslich arbeiteten wir 20 Jahre an diesem Kopf. Natürlich nur im Sommer, im Winter arbeiteten wir an den grossen Ausstellungen in ganz Europa – wir suchten uns unsere warmen Orte.»

Sie haben also ganze 20 Sommer lang am «Cyclope» gearbeitet?

Ja. Aber natürlich nicht alleine. Zwischendurch bekamen wir Hilfe von Bernhard Luginbühl und seiner Mannschaft, das war jeweils eine grossartige Sache. Auch Luginbühls Frau Ursi kam manchmal mit und kochte für uns. Im Schnitt waren sechs bis sieben Leute an der Arbeit. Wirklich an der Arbeit! Wir haben nur noch gearbeitet, gegessen, geschlafen und zwischendurch natürlich einen guten Wein getrunken, das durfte nicht fehlen.

Seppi Imhof
Seppi Imhof wurde am 23. Mai 1943 in Bern geboren. 1961 begann er eine Lehre als Maschinenschlosser. Von 1967 bis 1971 arbeitete er bei der Von Roll AG. 1971 meldete er sich auf ein Inserat von Jean ­Tin­guely, der einen Schlosser für den Bau einer Riesenplastik in der Nähe von Paris suchte. Imhof war bis zu Tinguelys Tod (1991) dessen Assistent. Von 1994 bis 2008 arbeitete Imhof im Museum Tinguely in Basel. ­Zuerst als Monteur der Maschinen, die hier neu aufgestellt ­wurden, und seit der Museumseröffnung (1996) als Restaurator. Seit sechs Jahren ist Imhof «mehr oder weniger» pensioniert, wie er sagt.

Was faszinierte Sie daran, an diesem Werk mitzuarbeiten?

Jeder Bub träumt von einer Waldhütte oder davon, mal etwas Verrücktes zu machen. Dass Jeannot und ich zufälligerweise zusammengefunden haben – alleine zu «spinnen» bereitet nicht so viel Spass –, ist schon etwas ganz Besonderes. Alleine schon die Idee, so ein Werk zu verwirklichen, ist etwas Aussergewöhnliches. Die Idee war ja bereits älter: Tinguely und Luginbühl wollten in Bern auf der Allmend ein solches Riesenwerk bauen, aber in der Schweiz war das wegen den ganzen statischen Berechnungen und wegen der Baubewilligung ein Ding der Unmöglichkeit. So entschied sich Jeannot dazu, nach Frankreich zu gehen. Er suchte sich ein Stück Land, das er sich mit Unterstützung von Jean de Menil aus Texas kaufen konnte. Und wir fingen einfach mal an.

Und die französischen Behörden duldeten alles?

Es dauerte gute zehn Jahre, bis die Polizei einmal vorbeischaute und verlangte, den «Permis de construire» zu sehen. Ich stieg runter und zeigte ihm meinen Fahrausweis (Anm. «Permis de conduire»). Der Polizist begriff die Welt nicht mehr, drehte sich um und verschwand wieder. Er tauchte nie mehr auf.

Das klingt nach einem verrückten Unternehmen.

Ja. Und es war eines, das sehr viel Spass bereitete. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis untereinander. Wir waren alle mit sehr viel Begeisterung an der Arbeit. Es stiessen ja auch immer wieder Künstler zu uns, die ihren Beitrag leisteten: Daniel Spoerri mit seinem um 180 Grad gedrehten Zimmer, Luginbühl natürlich mit dem grossen Ohr und dem Eingangstor, Niki de Saint Phalle und all die anderen. Wir haben verrückte Sachen erlebt. Einmal suchten wir für 28 Puppen von Eva Aeppli, die als Hommage gedacht waren an die Deportierten aus dem Weltkrieg, einen Eisenbahn-Güterwagen. Als die SNCF-Beamten wieder einmal in den Streik traten, wussten wir, dass die Gelegenheit günstig war. Wir gingen hin und schleppten einfach einen Güterwagen, der auf einem Abstellgleis stand, ab. Das waren fast alles Wagen, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren, ausser scheinbar derjenige, den wir mitgenommen haben.

War das die Art, wie sie Ihr Material zusammenklaubten? Es sind ja viele Tonnen Eisen im «Cyclope» vereinigt?

Es gab einen Schrotthändler, etwa fünf Kilometer vom «Cyclope» entfernt. Von dort haben wir lastwagenweise Eisen angekarrt. Aber ganz offiziell. Der Schrotthändler hatte alles auf Zettelchen aufgeschrieben, die er dann aber später wieder wegwarf mit der Bemerkung: «Ist schon in Ordnung so.»

Wo haben Sie denn gewohnt?

In einer ehemaligen Commanderie in der Nähe, die Tinguely gekauft hatte. Sehr komfortabel war das aber nicht, es gab knapp kaltes Wasser und etwas Strom und keine Heizung. Dafür aber ein riesiges Cheminée, gute 2,5 Meter hoch, wo man sich reinstellen konnte. Wenn wir dort waren, sorgten wir dafür, dass rund um die Uhr ein Feuer brannte. Das wärmte und war gleichzeitig unser Fernseher.

Haben Sie das Werk nach Tinguelys Tod und nach seiner Fertigstellung besucht?

Nach Jeannots Tod war ich noch ein paar Mal dort, um mitzuhelfen.

Mussten Sie auch Restaurierungsarbeiten durchführen?

Nein. Es ist eine Equipe vor Ort – das Werk gehört ja jetzt dem Staat – und da möchte ich mich nicht einmischen. Es ist jetzt eine andere Welt. Vor einem Jahr war ich das letzte Mal dort und habe gesehen, dass die Equipe Probleme mit den Spiegeln am Kopf hatten, die zum Teil runtergefallen waren. Es wurde eine Gruppe von Spezialisten zugezogen, um die Spiegel auszuwechseln – Restauratoren, die das Ganze sehr pingelig angehen. Das kann ich nicht nachvollziehen. Wir bauten alles mehr oder weniger spontan zusammen, und jetzt kommen Restauratoren, die sagen, dass dies nun ganz exakt ausgebessert werden soll. Unser – in Anführungsstrichen – «Fehler» war, dass wir nicht schriftlich festhielten, wie mit dem Werk restauratorisch umgegangen werden soll, also dass es keine so grosse Rolle spielt, ob die Spiegel nun ganz genau durch die gleichen Teile ersetzt werden oder nicht – die Wirkung bleibt ja letztlich die gleiche.

 

Jetzt ist eine Gruppe von Theaterleuten und Artisten auf die Idee gekommen, einen Nachbau des «Cyclope» als Rahmen für ein Spektakel zu nutzen. Wie stehen Sie zu so einem Projekt?

Ich habe irgendwo gelesen, dass Jeannot sicher seine Freude daran gehabt hätte. Das kann man doch nicht sagen. Wer weiss, ob dieses Projekt realisiert worden wäre, wenn Jeannot noch leben würde. Aber mir gefällt die Idee, dass jemand Spass daran hat, das Projekt auf seine Art weiterzuführen, so wie wir unseren Spass hatten, das Werk zu bauen. Dem Original-«Cyclope» tut dieses Theaterprojekt sicher gut, denn er rückt das Werk wieder ins Bewusstsein der Leute. Der eine oder andere kommt vielleicht auf die Idee, sich das Originalwerk in Milly-la-Forêt anzuschauen.

Haben Sie die Produktion gesehen?

Nein, noch nicht, ich werde in Basel eine Vorstellung besuchen. Aber ich habe mir die Konstruktion im Hafen bereits angeschaut. Da ist eine sehr engagierte und sympathische Truppe am Werk, die ihrer Sache mit Begeisterung nachgeht.

Tinguely und seine Künstlerfreunde hatten ja selbst ein Faible fürs Theatralische und für Performances. Wurde auch beim «Cyclope» in Milly-la-Forêt Theater gespielt?

Nicht direkt. Aber es gab die Idee, ihn zu bespielen. Wir richteten zuoberst einen Theaterraum ein. Diese Bühne hätte mit Stücken bespielt werden sollen, die verschiedene Künstler speziell für diesen Ort hätten schreiben sollen. Aber dazu kam es leider nicht.

Aber so, wie sie es schildern, hatte ja der Aufbau der Skulptur an und für sich schon etwas Theatralisches.

Jeannot inszenierte alles, und alle anderen mussten das tun, was er verlangte. Luginbühl musste ein Ohr bauen, obwohl er vielleicht etwas ganz anderes hätte machen wollen. Einmal gab es ein Feuerwerkspektakel im Wald, als Niki de Saint Phalle den Film «Un rêve plus long que la nuit» drehte, der zu grossen Teilen im «Cyclope» spielte. Das war eine wunderbare Show, wir waren begeistert. Auch beim «Cyclopee», der jetzt aufgeführt wird, gibt es ein Feuerwerk, also lebt da wieder etwas von früher auf – ergänzt mit viel Akrobatik und Shownummern.

Passt die Zirkuswelt in das Werk?

Warum nicht? Es gab ja das Vorgängerprojekt für Bern, das nicht verwirklicht wurde. In dieses wären eine Art Achterbahn und ein Karussell integriert worden. Das Schöne an diesem Zirkusprojekt ist, dass die Leute Freude daran haben, es ist etwas, was Spass bereitet, was nicht so viel vorkommt im heutigen Leben.

Furioses «Cylope»-Spektakel am Basler Hafen
Der Ort des Geschehens ist mehr ein Schrott- als ein Vergnügungspark. Die Schaubuden sind verrostet und verlottert, immer wieder fällt ein Bauteil von einem der Stände ab. Entnervt wirft der letzte Bewohner der Szenerie, ein Clown, das Handtuch und rammt ein Schild mit der Aufschrift «For Sale» in den Boden.
Doch dann regen sich plötzlich die alten Geister des Platzes in den Kulissen – und ein atemberaubendes circensisches Theater beginnt. Ohne Unterbruch überbieten sich Schlangenfrauen, Schleuderbrett-Akrobaten, Trampolinspringer und Seiltänzerinnen unter freiem Himmel mit furiosen Kunststücken vor dem Nachbau von Jean Tinguelys «Cyclope». Im Laufe des Abends wird auch der 22 Meter hohe Zyklop zum Leben erweckt – und Mensch und Maschine werden auf wundervoll-poetische Weise eins.
Mehr als 60 000 Menschen haben den von Regisseur Philipp Boë inszenierten «Cyclope» schon in Biel und in Winterthur gesehen, jetzt gastiert die Produktion noch bis Anfang September in Basel. Remo Leupin
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«Cyclope. Das poetisch-verrückte Spektakel frei nach Jean Tinguely». Klybeckquai, ­Uferstrasse 84. Vorstellungen ­Dienstag bis Sonntag. Bis 6. September. www.cyclope2014.ch

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