Joel Vergeat braucht die monumentale Landschaft

Joel Vergeat, früher als Umbrella Kid bekannt, hinterfragt in seinen Bildern gesellschaftliche, aber auch ganz persönliche Themen. Ein Besuch in seiner Basler Wohnung.

Joel Vergeat regt mit seinen Fotografien zum Nachdenken an.

(Bild: Nils Fisch)

Joel Vergeat, früher als Umbrella Kid bekannt, hinterfragt in seinen Bildern gesellschaftliche, aber auch ganz persönliche Themen. Ein Besuch in seiner Basler Wohnung.

Joel Vergeat mag es, der Sache auf den Grund zu gehen. Schnelllebigkeit und Unüberlegtheit sind ihm fremd. Das widerspiegelt sich auch in seiner Arbeit als Kunstfotograf. Seine neuesten Werke werden ab Samstag, dem 8. Oktober in der Gallery Daeppen gezeigt — zusammen mit Arbeiten von Christian Robles und Ana Vujic.

Joel Vergeat fotografiert analog und bearbeitet seine Bilder nur minimal. «Analoge Fotografie sehe ich als vom Licht geschaffene Realität. Ich möchte mir nicht anmassen, die Realität zu verändern. Vielmehr will ich mittels Abstraktion andere Perspektiven dieser Realitäten aufzeigen und interpretieren», sagt der 30-jährige Autodidakt. Damit Lichtführung und Schatten auf dem Bild genau seiner Vorstellung entsprechen, muss er sich teils wochenlang akribisch auf den perfekten Zeitpunkt der Aufnahme vorbereiten. «Dabei habe ich mir immer genau die Techniken beigebracht, die ich brauchte, um ein Bild zu vervollständigen.» Auf eine Kunstschule hat Vergeat bewusst verzichtet, weil die Vorstellung seiner Bilder schon früh zu konkret gewesen seien.

Auf Kaffee- und Katzenbesuch

Inhaltlich setzt sich Joel Vergeat, der sich früher den Künstlernamen Umbrella Kid gegeben hat, unter anderem mit den Werten unserer Gesellschaft auseinander. Was dies bedeutet und wie er zur Fotografie kam, erklärt er uns bei einem Kaffee in seiner kleinen Wohnung in Basel. Da lebt er zusammen mit seiner Frau Neve, welche er als seine Muse und grösste Unterstützerin sieht — und zwei Katzen.



Katzen ruhen sich am liebsten dort aus, wo kreativ gearbeitet wird — auch Katze

Katzen ruhen sich am liebsten dort aus, wo kreativ gearbeitet wird — auch Katze „SNG“. (Bild: Nils Fisch)

Joel Vergeat hat seine Leidenschaft für die Fotografie und für das Schreiben von Texten schon früh entdeckt. Als Praktikant in der Bildredaktion des Schweizer «7SKY Magazine» hat er zu Anfängen vor allem über die Bilder Anderer entscheiden müssen. «Aber ich wollte selber Bilder machen — meine eigene Bildsprache kreieren.» Als Skater, der bereits in Teenager-Jahren seine eigenen Brettkünste und die seiner Freunde dokumentiert hat, spielt die städtische und zeitgenössische Architektur eine wichtige Rolle in seiner Schwarz-Weiss-Fotografie. Zu sehen sind klare Linienführungen, betont geometrische Strukturen und harte Kontraste.

Dabei entwirft Joel Vergeat zuerst alles auf dem Papier, bevor er nach der passenden architektonischen Gegebenheit sucht. «Skater suchen immer nach der idealen Schaustätte für die Ausübung ihrer Leidenschaft. Von daher bin ich es mir gewohnt, mich nach der perfekten Umgebung umzuschauen und dafür weit zu reisen», sagt Vergeat. So entstand ein Teil seiner Fotografien in Städten wie New York, Barcelona oder Paris, aber auch in Basel oder Baden. «Ich brauche grossflächige, fast schon monumentale Betonlandschaften für meine Bilder», sagt er.

«Für Missstände habe ich Handlungen anderer angeprangert.»

Dass er heute einen Grossteil aller Betonbauten in der Schweiz kennt, verdankt er jahrelangen Recherchen. Die Bereitschaft, weit zu gehen, um die richtigen Antworten zu finden, zieht sich durch seine ganze Denkweise. Vergeats Arbeiten sollen den Betrachter zum Nachdenken anregen. «In der Vergangenheit hat mich unter anderem der zunehmende Wertezerfall in unserer Gesellschaft beschäftigt. Für Missstände habe ich oft grosse Firmen oder Institutionen und deren Handlungen angeprangert.»

Heute ist ihm aber Konstruktivität wichtiger als Kritik. Man könne gegen das Eine oder für das Andere sein. «Ich versuche, weg von der Kritik und hin zur Selbstreflexion und Selbstkritik zu gehen.»

Ein Akt der Selbstreflexion

Diesen neuen Ansatz beschreibt er in einem noch nicht veröffentlichten Essay mit dem Namen «Kritische Gedanken zur Kritik»:

«…Das eigentliche Gegenmittel aber sehe ich nicht in der Kritik, sondern vielmehr in der Selbstkritik, gekoppelt an einen vorlaufenden Akt der Selbstreflexion. Diese nämlich mündet in Einsicht und verpflichtet zu persönlicher Konsequenz. Wie denn bloss will der Mensch beispielsweise den allseits geächteten Kapitalismus zu Fall bringen, wenn er es noch nicht einmal vermag, sich diesem konsequent zu entziehen? Oder an einem selbstbezogenen Beispiel veranschaulicht: Seit Jahren propagiere ich in meinen Arbeiten, was für verheerende Auswirkungen ‚Soziale Medien‘ auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen haben können und doch konnte ich es bis heute nicht bewerkstelligen, mich diesen vollumfänglich zu verweigern…»

Wenn man sich in Joel Vergeats Wohnung umsieht, entdeckt man lauter alte, sorgfältig zusammengestellte Kostbarkeiten. «All unsere Möbel kommen aus Brockenstuben oder von der Strasse.» Nicht am Materiellem zu hängen, sei der damit verbundene Wunsch. Auch Joel Vergeats Kleider kommen aus dem Secondhand-Laden. Wiederverwertung ist ein Trend, den er begrüsst.

Sonst steht er kaum auf Strömungen und Hypes. Im Gegenteil: Auf der Gefühlsebene fühle er sich oft wie ein Fremdkörper im gesellschaftlichen Konstrukt, sagt Vergeat. Das hänge damit zusammen, dass jeder, der nicht das tut, was alle anderen tun, gleich der Norm widerspreche. 



In Joel Vergeats Wohnung befindet sich an grosser Schatz an Gegenständen aus vergangen Zeiten. 

In Joel Vergeats Wohnung befindet sich an grosser Schatz an Gegenständen aus vergangen Zeiten.  (Bild: Nils Fisch)

Umso wichtiger seien ihm seine Freunde, seine Familie und die Menschen, die stets an ihn geglaubt haben. Dass er nach einer ersten Ausstellung an der Photo 07 in Zürich seit 2009 regelmässig in der Galerie Daeppen im Kleinbasel ausstellen kann, betrachtet er nicht als selbstverständlich. In seiner neu verfassten Anthologie widmet er denn auch Galerist Guillaume Daeppen einen speziellen Dank für dessen Unterstützung.

Vergeats Arbeiten wurden im Rahmen der Regionale 16 auch in Strassbourg und an der diesjährigen LISTE gezeigt. «Dass sich dieses Jahr jeder Basler Kunstschaffende, ob Kunstschule absolviert oder nicht, um einen Ausstellungsplatz bewerben konnte, rechne ich der Liste als verkaufsorientierte Plattform hoch an», sagt er. Seine Bilder auszustellen, sei für ihn eine Möglichkeit, mit einem Thema abzuschliessen. «Die Ausstellung meiner Arbeiten ist der Abschluss eines Prozesses. Danach kann ich weiter zu etwas Anderem.»

Die Unabhängigkeit bleibt ein Balanceakt

Bewusst nach einem professionellen Netzwerk gesucht hat der Künstler nie. Sein Netzwerk sei natürlich entstanden und gewachsen. «In der Kunstwelt passiert es oft, dass man genau nach den Leuten sucht, die einen weiterbringen können. Dagegen hatte ich schon immer eine starke Aversion.» Die Leute mit denen er arbeitet, zählt er zu seinen Freunden — nur so sei die Zusammenarbeit auch nachhaltig möglich. Neben der Fotografie arbeitet Joel Vergeat auch in einem anderen Job, um finanziell als Künstler unabhängig zu sein. «Anfangs habe ich mir gewünscht, von meiner Leidenschaft leben zu können. Diese Idee hat sich aber etwas verändert», sagt er.

Dem Drang einer Kunstkarriere nachgehen zu müssen, widersetzt sich Joel Vergeat heute. «Ich versuche einfach, das Talent, das mir geschenkt wurde, als positiven Output umzusetzen.»



Joel Vergeat hat sich sein Wissen selbst angeeignet — oft auch aus der Literatur. 

Joel Vergeat hat sich sein Wissen selbst angeeignet — oft auch aus der Literatur.  (Bild: Nils Fisch)

Mit dem Elitären in der Kunstwelt kann er sich nicht identifizieren. Für ihn muss Kunst breit zugänglich gemacht werden. Das gilt auch für die Produktion: «Auf teure Rahmen verzichte ich heute. Dafür habe ich nun alte Schubladen ausgegraben, aus denen ich selbst gemachte Rahmen herstelle.» Dass er für seine aufwendig hergestellten Bilder viel Geld verlangen könnte, sieht er nicht ganz ein. «Ich hätte die Bilder ja sowieso gemacht. Für mich ist es ein Privileg, dass ich dafür Zeit finde. Wenn es dann noch jemand anderem gefällt, ist das umso schöner», sagt er.

Damit sich auch Interessenten mit kleinem Budget Joel Vergeats Kunst leisten können, stellt er eine Sammlung seiner teils nicht ausgestellten Bilder in einem handgefertigten 42-seitigen Zine zusammen. Eine Arbeit, die ihn bisher schon zwei Jahre seiner Zeit gekostet hat. «Aber ich kann nur den Teil meiner Arbeit mit anderen teilen, hinter dem ich zu hundert Prozent stehe.» Die erste Ausgabe dieser Anthologie wird ab dem 8. Oktober ebenfalls in der Galerie Daeppen präsentiert. Weitere sollen später folgen. Danach will sich Joel Vergeat vermehrt der Malerei widmen. 


A Group Show, 8. Oktober bis 12. November, Gallery Daeppen, Müllheimerstrasse 144, 4057 

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