Wenn Anais und Bruno zu Hause sind, dann machen sie Kindersachen. Kindersachen? Also spielen, rennen, rumturnen?
Ja auch, aber eher so: Muster aus den Brotkrumen auf dem Küchentisch formen. Mit den Fingern die Milchhaut von der Milch abziehen und an der Unterseite ihrer Stühle abstreichen. Die Härchen an den Armen anpusten. Sich Zahnpastapunkte auf die Nase machen. Und die Kaugummis an der Reckstange im Hof zählen: 197.
«Meine Tierchen», sagt dann jeweils die Mutter von Anais und Bruno, die oft unglücklich ist und gerne raucht und viel Wein trinkt. «Meine Tierchen», und dann geht ihr Gesicht zu. Wie die Rollläden der Schaufenster in der Innenstadt.
Und dann wünscht sich die erzählende Anais manchmal eine andere Mutter, eine mit Küchenschürze und sanften, müden Augen. Keine tanzende, trinkende Mutter, die die Welt als Baukasten sieht, bei dem man alles richtig und schön zusammensetzen kann, wenn man bloss das schöne und richtige Prinzip kennen würde. Schön und richtig, das gehört für die Mutter von Anais und Bruno zusammen wie Urlaub und Wein und Zigaretten.
Und hier fängt «Immer ist alles schön» auch an: Im Urlaub, der eigentlich alkoholfrei angedacht war, nun aber doch von einer trinkenden, tanzenden Mutter in rotem Leinenkleid mit goldenen Knöpfen besetzt wird. Und zwei Kindern, die – wenn die Mutter sich erbrechend im Bad einschliesst – eben Kindersachen machen.
Diese Mutter braucht eine Stimme
Diese schreckliche Mutter! Julia Weber lacht und nickt. Sie sitzt vor Panaché und Zigaretten am Rhein und redet über ihren Erstling, der als kurze Erzählung begann, als Weber noch am Literaturinstitut in Biel studierte. Damals war die kleine Protagonistin Anais einzige Erzählerin der Geschichte. Und sofort kamen die Kommentare von den Mitstudenten: Die armen Kinder, mit dieser furchtbaren, alkoholkranken Mutter! Dabei war über das Leben der Mutter nur das bekannt, was in den Kinderkosmos von Tochter Anais gehört. Der Rest blieb verborgen. «Da wusste ich, die Mutter braucht auch noch eine Stimme.»
Und so setzt sich «Immer ist alles schön» aus zwei Stimmen zusammen: der Stimme der 12-jährigen in Peter verliebten Anais und der Stimme der ins Leben verliebten Maria, die eher ungewollt plötzlich ein Kind in sich wachsen hat und später noch eins.
Es sind starke, eigenständige Stimmen, die starke, eigenständige Universen beschreiben, so nah an der Wirklichkeit, dass man glaubt, mit ihnen im Buch zu sein. «Wir denken darüber nach, dass man nicht mehr weiss, wo der eigene Körper beginnt, wenn das Aussen gleich warm ist wie man selbst», sagt Anais einmal und genau so verhält es sich auch mit dem Buch, zwischen dessen Deckeln sich ihr Leben abspielt: Es ist gleich warm wie man selbst.
Eigentlich wollte man bei diesem Gespräch am Rhein ja vieles über diese Autorin herausfinden, die man nur aus dem Augenwinkel kennt: An der Schreibmaschine sitzend, beobachtend, tippend, rauchend. Das ist Julia Webers Brotjob: Sie betreibt den Literaturdienst, man kann sie für Feste oder Veranstaltungen mieten und sie kommt, bringt ihre alte Schreibmaschine mit, und protokolliert, was sie sieht. «Protokolliert» ist natürlich massivst unterverkauft. Weber schreibt wunderschöne Momentaufnahmen, literarische Schnappschüsse, kurz und scharfgestochen. Und wieder: so nah am Leben, dass man da berührt wird, wo das Wort für gewöhnlich nicht hinreicht.
Wer ist jetzt also diese Julia Weber, wollte man ursprünglich wissen. Diese Frau, die es fertigkriegt, Christa Wolfs «Ich wollte ein Gewebe schaffen, das der Wirklichkeit möglichst nahekommt»-Credo so hart zu erfüllen, dass man nur atemlos davorsitzen und hoffen kann, dass die Geschichte von Anais und Bruno bitte nie, nie ende, so wie man sich wünscht, dass das eigene Leben auch bitte nie, nie ende.
Und redete dann doch nur über das Buch.
Das auch macht den Reiz von «Immer ist alles schön» aus: Nach dem Lesen kann man nicht aufhören, daran zu denken, darüber zu reden.
Ausserdem ist Julia Weber ja auch dieses Buch und umgekehrt. Es wuchs aus ihr heraus, sagt sie, und keine andere Bezeichnung passt besser: Die Geschichte von Anais, Bruno und ihrer Mutter liest sich wie ein Organismus, der dieser Autorin entwachsen ist, über die Seiten wuchert, ungebändigt und frei. Hier wurde nicht jeder Satz tausendmal gewälzt, hier fliesst es, wächst in viele Richtungen, ein einziges wunderschönes Rhizom.
Worte fürs Kinderuniversum
Irgendwann, wahrscheinlich kurz nachdem man so alt war wie Anais, hat man sie verloren: Die kindliche Nähe zur physischen Welt. Vieles passiert nur noch im Kopf, die Vernunft gewinnt fast immer gegen den Impuls, der Kopf gegen das Herz. Man muss nicht mehr alles anfassen, schliesslich weiss man ja, wie es sich anfühlt, man hat es schon tausendmal angefasst.
Als Kind ist das noch ganz anders, da ist man ganz nahe an der Welt, man schürft sich die Knie auf, man macht Purzelbäume auf nassem Rasen, man bleibt mit der Zunge am gefrorenen Treppengeländer kleben. Man fühlt und riecht und schmeckt, jede Bewegung hallt lange nach. Vieles, fast alles geschieht zum ersten Mal, man ist sich die Welt noch nicht gewohnt.
Heute mag man sich noch erinnern an diese Zeit, wehmütig wahrscheinlich, wie Picasso, dessen grösster Wunsch es war, wieder so unbedarft wie ein Kind malen zu können. Erinnern mag man sich, beschreiben kann man sie aber schlecht. Als Kind, weil man noch keine Worte dafür hat, und als Erwachsener, weil man zu viele Worte dafür hat.
Und genau hier setzt Julia Weber an. Sie nämlich – und das ist ihr grösstes Geschenk an den Leser – hat die Worte dafür. Bei ihr sind Kindersachen eben nicht nur rennen, spielen, unter einer alkoholkranken Mutter leiden. Bei ihr sind es Brotkrumen und Milchhaut und 197 Kaugummis an der Reckstange im Hof. Bei ihr ist es die Mutter mit dem Rolladen im Gesicht und die kleine grosse Anais, die sagt: «Beim Gehen habe ich ein Gefühl, als hinge ich seitlich aus mir heraus.»
Bei Julia Weber kommt das Kind in einem wieder zurück, man erinnert sich an die Purzelbäume, die Zungen und Knie, aber am meisten erinnert man sich an dieses Gefühl, Kind zu sein. Und das soll Julia Weber in diesem Porträt, das schliesslich doch nicht wirklich ein Porträt wurde, nun auch sein: Die Autorin, die uns 200 Seiten lang unsere Kindheit zurückgibt.
_
«Immer ist alles schön», Limmat Verlag, 2017.
Die Zeichnungen im Artikel stammen übrigens auch von Julia Weber, sie sind Skizzen zur Erzählung und hinter der Geschichte im Buch aufgeführt.