«Junge Kunstschaffende haben es heute nicht einfacher»

Pro-Helvetia-Chef Andrew Holland spricht über Schweizer Kulturförderung.

«Viele beklagen, dass die Jugend nicht mehr lese und weniger Musik höre. Dem widerspreche ich», sagt Andrew Holland. (Bild: Keystone)

Seit November 2012 leitet Andrew Holland die Geschicke der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Im Interview spricht er über Herausforderungen und Problemzonen in der Förderung von Schweizer Kultur.

Für das finanzielle Dach der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia ist der Bund in Bern besorgt. Der Sitz der Stiftung, die kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde, liegt aber in Zürich. Und zwar unter dem Dach eines alten Herrschafts­hau­ses am Hirschengraben, zwischen dem Obergericht und dem Kunsthaus gelegen. Da passt Andrew Holland irgendwie hinein, denkt man sich salopp, hat der neue Direktor von Pro Helvetia doch Jura studiert, mit einer Studie über die Kulturförderung in den USA und der Schweiz promoviert und parallel dazu in der Kulturszene ge­arbeitet.

Recht und Kulturvermittlung sind dem 47-Jährigen also bestens vertraut. So bewegte er sich als Dramaturg jahrelang in der freien Tanz- und Theaterszene, wirkte im Programmteam der Roten Fabrik mit, ehe er beim Bundesamt für Kultur neben anderem das Projekt Tanz aufbaute und 2004 zur Pro Helvetia wechselte.

Holland, in England geboren und im Appenzell aufgewachsen, war stell­vertretender Direktor, als sein lang­jähriger Chef Pius Knüsel 2012 gemeinsam mit drei weiteren Autoren die Streitschrift «Der Kulturinfarkt» veröffentlichte – und wenige Wochen später seine Kündigung bekannt gab.

Seit November sitzt Holland als Nachfolger von Knüsel im Direktorenzimmer. Durch die Fenster dringt der Lärm einer Grossbaustelle, die Stadt Zürich hämmert an ihrer Zukunft. Von einer Baustelle kann man drinnen, bei der Pro Helvetia, nicht reden. Aber auch die Stiftung ist im Wandel. «Wir müssen uns immer dynamisch verhalten», sagt Andrew Holland. «Kultur entwickelt sich täglich weiter, mir ist sehr wichtig, dass wir ständig beobachten und unsere Förderung anpassen.»

Mit dem neuen Kulturfördergesetz erhielt die Stiftung per 2012 vom Bund neue Aufgaben, aber nicht das nötige Geld dazu. Holland spricht von Herausforderungen. Und er spricht gerne darüber. Denn «ich bin eine Person, die vom Wesen her gerne nach vorne schaut.» Dennoch sei uns erlaubt, zu Beginn des Gesprächs kurz zurückzublicken.

Herr Holland, was dachten Sie, als Sie im vergangenen Jahr die Streitschrift «Kulturinfarkt» lasen, an der Ihr damaliger Chef Pius Knüsel mitgearbeitet hatte?

Das Buch geht stark von der aktuellen Situation in Deutschland aus. Es wirft durchaus interessante Fragen auf. ­Seine Thesen lassen sich aber nur sehr bedingt auf die Schweiz übertragen.

Bei aller Polemik aber greift das Buch einige wichtige Fragen auf.

Absolut. Es finden sich darin Bei­spiele, mit denen wir uns bereits heute ­befassen, etwa der Aspekt der Digi­ta­lisierung. Viele beklagen, dass die ­Jugend nicht mehr lese und auch weniger Musik höre. Dem widerspreche ich. Ich hatte als 14-Jähriger ein Dutzend Schallplatten. Heute haben Kinder in diesem Alter 1000 Lieder auf ihren Endgeräten, erstellen Playlists im ­Internet, sind dauernd in einer Text-Filmwelt drin, produzieren auch selber in der digitalen Welt. Das ist heute ein Bestandteil unserer Kultur, und diesem digitalen Wandel muss man auch in der Kulturförderung Rechnung tragen.

Welche grundsätzlichen Fragen treiben Sie des Weiteren um?

Wir haben auf 2012 viele neue Auf­gaben erhalten, aber nicht entsprechend mehr Geld, weshalb wir Schwerpunkte setzen und die neuen Instrumente gestaffelt einführen. Dies betrifft namentlich den Nachwuchs in allen Sparten, aber auch Medienkunst und Design. Für 2013 haben wir uns vorgenommen, das Thema der Kunsträume, der Offspaces, anzugehen und die Fotografie verstärkt zu fördern. Zudem wollen wir uns auch im Bereich der grossen Berufsorche­ster mehr engagieren.

Was heisst das konkret?

Wir haben entschieden, 2014/2015 kein zusätzliches Länderprogramm zu machen und die frei gewordenen Mittel in die Umsetzung neuer Aufgaben zu investieren. In der Orchesterförderung zum Beispiel sind wir dabei, mit orchester.ch ein Modell zu entwickeln, das die Förderung neuer Schweizer Werke gezielter angeht.

Orchester können also auf grös­sere Chancen hoffen, von Pro Helvetia unterstützt zu werden?

Es geht vor allem auch um eine neue partnerschaftlichere Form der Zusammenarbeit. Ich bin ein grosser Anhänger von mehrjährigen Verträgen, ­welche den Kunstschaffenden mehr Flexibilität und Planungssicherheit geben. So wie wir das bei den grösseren Jazzfestivals oder bei ausgewählten Tanz- und Theatercompagnies eingeführt haben. Mit der Tänzerin und Choreografin Alexandra Bachzetsis, die in Basel und Zürich zu Hause ist, haben wir zum Beispiel einen Drei­jahresvertrag zusammen mit den beiden Basler Kantonen und der Stadt Zürich abgeschlossen. Sie muss nun nicht mehr für jedes Projekt ein einzelnes Gesuch einreichen, sondern ­bekommt einen Pauschalbeitrag. Im Gegenzug ist sie innerhalb dieser drei Jahre zu einer gewissen Anzahl an Neukreationen, Gastspielen und anderen Aktivitäten verpflichtet. Mit solchen Verträgen schaffen wir einen Austausch auf Augenhöhe und dem Künstler oder Veranstalter eine grös­sere Flexibilität, sein Programm so zu gestalten, wie es für ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt Sinn macht.

Damit geben Sie den unterstützten Künstlern mehr Freiheiten – erachten Sie das als sinnvoller als punktuelle Unterstützungen?

Im professionellen, etablierten Bereich: Ja. Diese Leute haben bereits ­einen Leistungsausweis. Punktuelle Förderung wird aber weiterhin ein Schwerpunkt sein. Etwas anders ist die Ausgangslage im Nachwuchsbereich. Hier wollen wir längerfristige Kooperationsformen suchen. Zum Beispiel ein Ensemble, das junge Komponisten in «Residence» aufnimmt. Davon profitieren beide – Interpreten und Komponisten. Und die Aktion gibt den Künstlern Zeit, etwas gemeinsam zu entwickeln.

Aber birgt dieses Modell nicht die Gefahr, dass Kulturschaffende ihr Programm mit Blick auf die Förderkriterien und Präferenzen einer potenziellen Geldgeberin wie der Pro Helvetia ausrichten?

Bei den mehrjährigen Verträgen besteht diese Gefahr nicht. Im Gegenteil. Ein Jazzfestival wie zum Beispiel ­Willisau muss nicht ein Gesuch für die einzelnen Gruppen aus anderen Sprachregionen eingeben, für welche wir dann Geld geben oder nicht, sondern hat einzig die Aufgabe, während drei Jahren eine bestimmte Anzahl solcher Gruppen einzuladen. Zwar ­besprechen wir jeweils das geplante Programm – wann das Festival welche Gruppen aus den anderen Sprach­regionen einlädt, liegt aber letztlich in der Hand des Festivals.

Zwei Drittel der Gelder von Pro Helvetia, rund 15 Millionen Franken jährlich, fliessen in Aktivi­täten im Ausland – nicht nur in Tourneebeiträge, sondern auch in die Programme der neun Aus­senstellen in verschiedenen Städten. Hinterfragen Sie deren Notwendigkeit? Brauchen wir ein Pro-Helvetia-Büro in der polnischen Hauptstadt Warschau?

Fragen wie diese stellen wir uns immer wieder. Wobei man unterscheiden muss: Wir unterhalten Kulturzentren, etwa in Paris und Rom. Und wir haben Verbindungsbüros wie jenes in Warschau, die eine Brückenfunk­tion bilden sollen. In Polen wollte man nach der Wende den Zugang für Schweizer Kulturschaffende erleichtern. Das Büro baute Netzwerke für Schweizer Künstler in der ganzen Region auf, machte Promotion für ­diese und ermöglichte eine Vielzahl von Partnerschaften, Auftritten und Ausstellungen. Funktioniert der Austausch nach der Aufbauphase, schlies­sen wir ein Büro und gehen weiter an einen nächsten Ort, wo es einen Türöffner braucht.

Wo würden Sie denn gerne ein Büro eröffnen?

Russland ist für uns eine Überlegung wert. Im Moment erörtern wir dort das Potenzial. Auch sehr interessant fände ich ein Standbein in Südamerika. Wir stellen auf diesem Kontinent eine wachsende Nachfrage nach Schweizer Kultur fest, etwa in den ­visuellen und performativen Künsten. Zugleich besteht grosses Interesse der Schweizer Kulturschaffenden, sich in Ländern wie Brasilien zu präsentieren.

Das Klima ist dort ja auch angenehm.

(lacht) Südamerika steht für Wachstumsmärkte, weshalb wir in der nächsten Subventionsperiode ab 2016 schwerpunktmässig aktiver sein möchten. Einen zweiten Schwerpunkt sehe ich in Skandinavien, das mit ­seiner Nähe zum Baltikum, aber auch zu Grossbritannien aus mehrfacher Sicht interessant ist. Von den skan­dinavischen Ländern könnten wir Schweizer auch einiges lernen, denken wir nur daran, was Dänemark inter­national im Film erreicht hat oder ganz Skandinavien in der Musik.

Wie gut gelingt es derzeit, Schweizer Kultur ins Ausland zu exportieren?

Es ist zurzeit nicht einfach, leider. Das liegt nicht an der Qualität der Schweizer Kultur, sondern am starken Franken und an der Euro-Krise. Aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten brauchen Schweizer Künstler Gagen, die sich ausländische Veranstalter im Moment nicht mehr leisten können. Schweizer Künstler können es sich umgekehrt nicht mehr leisten, ins Ausland zu gehen. Dieses Problem beschäftigt mich sehr, auch, weil sich das nicht so schnell ändern wird.

Heisst das, Schweizer Kultur ist international nur konkurrenz­fähig, wenn sie künftig noch ­stärker subventioniert wird?

Ja, um dieses Potenzial auch künftig ausschöpfen zu können, braucht es eine Anpassung der Förderinstrumente an die geänderten Umstände. Dafür wollen wir uns im Hinblick auf die Finanzierungsperiode ab 2016 einsetzen.

«Es ist zurzeit leider nicht einfach, Schweizer Kultur zu exportieren.»

Als Kulturschaffender muss man sich in der Schweiz den Durchblick erarbeiten, was Förderung angeht: Da verteilen Gemeinden, Kantone und der Bund Gelder, aber auch Swisslos-Fonds und Stiftungen. Manche fördern nur gemeinsam, andere schliessen ­einander aus. Ist all das nicht ziemlich verwirrend?

Das mag für manche so sein. Die Schweiz hat aber durch ihr System den grossen Vorteil, dass eine kulturelle Vielfalt angestrebt wird. Erhält ein Kulturschaffender von A für sein ­Gesuch eine Absage, besteht die Möglichkeit, dass er von B oder C berücksichtigt wird und sein Projekt dennoch umsetzen kann. In Ländern, wo die Förderung streng zentralistisch or­ganisiert ist, hätte er diese Alterna­tiven nicht. Was besser oder schlechter ist, lässt sich nicht sagen. Unser ­föderalistisches System hat also durchaus Vorteile.

Diese vielfältige Kulturförderung sorgt aber auch dafür, dass manche visuellen Künstler fast mehr Zeit damit verbringen, Anfor­derungsprofile zu studieren und Gesuche einzureichen, als Kunst zu schaffen.

Ich sehe Ihren Punkt: Auch mir wäre es ein grosses Anliegen, dass der ad­ministrative Aufwand geringer wird, unserer wie auch jener der Künstler. Vereinzelt gibt es schon eine bessere Koordination seitens der Förderstellen, etwa was Termineingaben betrifft. Aber auch eine Vereinheitlichung der Software für die Gesuche wäre wünschenswert. Meine Vision ist, dass ein Kulturschaffender dereinst nur ein einziges Dossier ausfüllen muss und dann mit einem Mausklick alle möglichen Förderstellen beliefern kann.

Man wird den Eindruck nicht los, dass manche Kunsthochschulen ihre Abgänger nicht genügend auf den freien Markt vorbereiten.

Es ist für junge Kunstschaffende sicher nicht einfacher geworden. Der Markt ist härter denn je, für junge Absolventen wird es zunehmend schwieriger, ihren Platz zu finden. Unsere Aufgabe ist es, mit den Schulen und Veranstaltern die Talente zu fördern und ihnen auch den Sprung ins Ausland zu ermöglichen. Nicht mit der Giesskanne, sondern indem wir Schwerpunkte setzen.

Es gibt immer mehr Kultur, Kulturschaffende, Kulturmanager und -vermittler. Welche Probleme sehen Sie ­dadurch auf die Förderung ­zukommen?

Es entstehen tatsächlich sehr viele Werke und die Frage ist: Wie kann man dafür sorgen, dass diese gezeigt werden können? Wir müssen Modelle entwickeln, mit denen wir alles koordinierter betrachten. Um ein Beispiel zu geben: Man kann als Förderer die Kreation eines Tanzstückes unterstützen – aber eigentlich ist es auch wichtig, dass dabei die Verbreitung und Vermittlung miteinbezogen wird, bis hin zur Pressearbeit, auf dass dieses Stück sein Publikum finden kann.

Aber Sie haben ja derzeit nicht mehr Geld zur Verfügung …

Nein, aber wir müssen uns enger mit anderen Stellen austauschen, also den Städten und Kantonen. Und das nicht nur im Bereich der Kunstförderung. Im Bereich Modedesign etwa wird man in der Schweiz nicht unterstützt, junge ­talentierte Designer gehen ins Ausland und nehmen ihr Know-how mit. Also stellt sich uns die Frage: Können wir eine talentierte Designerin bei den ersten Kollektionen unterstützen – und mit der Wirtschaftsförderung zusammenspannen? So könnten wir Karrieren auf eine neue Art begleiten. Und indem wir die Kultur aus ihrem Umfeld herausholen, auch im Bereich Forschung, können wir mehr Anerkennung für die Kunst wecken.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.01.13

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