Schülerinnen und Schüler der Gymnasien Bäumlihof, Leonhard, Münsterplatz, Muttenz und Oberwil nahmen im Vorfeld der BuchBasel an einem Schreibwettbewerb zum Festivalthema «Über die Grenze» teil. Wir präsentieren die prämierten Texte . Lilia Widrig (16) vom Gymnasium Leonhard wurde mit dem ersten Platz ausgezeichnet.
Die Frau, die aus dem Wagen steigt, um zu tanken, trägt teure Schuhe. Schuhe mit hohen Absätzen, die arrogant zu klackern scheinen, als wären sie sich ihres Preises bewusst. Die da drüben tragen alle teure Schuhe.
Der Schmuck am Handgelenk der Frau klimpert und klingelt, ich höre es bis hier. Ich versuche, mir Karlina so vorzustellen. In solchen Schuhen. Es funktioniert nicht. Aber die da drüben haben alle solche Schuhe, warum nicht auch sie.
Sie mag es, schön auszusehen. «Schau dir alle diese hässlichen Leute an», hat sie immer gesagt. «Das hier ist eine vergessene Provinz der Armen. Wir sollten nach Paris gehen!» Paris. Das war immer die endgültige Vorstellung von Schönheit und des Reichtums. «Wir müssen nur rüber. Allein das würde genügen.» Ich sehe sie vor mir, wie sie das sagt und sich energisch die langen, wilden Locken aus den Augen streicht. Mein Blick schweift nach draussen.
Ein alter Hund läuft über die Strasse, sein Fell ist dreckig, er hat den Schwanz eingezogen. Vor dem kaputten alten Zaun, der an manchen Stellen durchgerostet ist, legt er sich nieder. Er zuckt noch ein paarmal mit den Ohren, dann liegt er da wie tot. Ich zünde mir eine Zigarette an und leere den übervollen Aschenbecher. Mein Magen gibt mir zu verstehen, dass er auf der Stelle etwas zu Essen haben will und ich reisse meinen Blick los von den gelblich verfärbten Bäumen und dem grauen Himmel, der mich schier erdrückt. Drüben ist das sicher anders.
In meinen Vorstellungen ist es drüben immer schönes Wetter, und wenn grau, dann ein luftiges, leichtes Grau, das aussieht wie mit Künstlertusche gemalt, nicht wie graue Walkotze. Ich erwärme Blinys und streiche einen neuen Tag im Kalender ab. Draussen ist es dunkel geworden und die Kälte zieht durch die Fensterspalten herein. Ein weiterer Tag ohne Karlina. Ob sie wohl. Nein.
Ich wische die Tischplatte sauber, und der alte Tisch mit all seinen Furchen und Kerben macht mich wahnsinnig. Hier haben wir Wein getrunken, uns die Haare geschnitten, diskutiert und uns geküsst. Wenn wir Zeit dazu hatten und sich unsere Arbeitsschichten nicht in die Quere kamen, haben wir manchmal richtig gross gekocht. Wie wenn wir reich wären, mit Kerzen und einem Bettlaken als Tischtuch. Mit drei Gängen und anschliessendem Kandiszuckerlutschen und Zigarettendrehen. Allzu oft sprach Karlina dann davon, wegzugehen. Rüberzugehen. Weit weg oder ganz weit weg oder wenigstens ein bisschen weit weg.
Ein Teil von mir verstand sie nicht. Wie konnte sie rüberwollen zu denen, die meine Vorfahren ausgelöscht hatten. Karlina sieht das anders. «Vergangen ist vergangen», meint sie. Und dass wir uns nicht abzufinden bräuchten, wir hätten eigentlich die Wahl. Pah. Ich hatte noch nie die Wahl.
Ich arbeite in der Wäscherei, das ist nicht meine freie Wahl. Und ich wohne hier, um nahe bei meiner Mutter zu sein, das ist auch nicht meine Wahl. Wählen und selbst bestimmen kann man nur drüben. Und ich bin hier. Karlina hat ihre Wahl getroffen, sie ist weg. Und ich weiss noch nicht einmal, wo sie ist.
Ich lege mich auf meinen Schlafteppich und lasse die Läden offen. Weil viele von drüben zu uns wollen, um billig einzukaufen, billig zu tanken oder sonstwas billig zu kriegen, ist es hier ein ständiges Kommen und Gehen. Man kann auch Geld wechseln in der Tankstelle unten, oder einen Plastikgartenzwerg kaufen oder vergilbte Postkarten, auf denen die Hauptstadt zu sehen ist. Die Spitze meiner Zigarette glüht im Dunkeln, ihr Licht ist viel tröstlicher als das Scheinwerferlicht der Lastwagen, das mein Zimmer streift, vollkommen in Besitz nimmt und es schiesslich kleinlaut wieder verlässt. Ich stelle den Wecker auf 04.00. Mein Bus fährt 04.20, ich muss mich stets beeilen, ihn zu erwischen. Ich kann es nicht ertragen, den Wecker früher zu stellen, denn schon 03.55 klingt viel schlimmer als 04.00.
Ich stehe auf, um die Läden doch noch zu schliessen. Im gelben Licht der einzigen und verloren aussehenden Strassenlaterne steht ein Lastwagen der Wäscherei. Die von drüben schicken ihre Wäsche tonnenweise zu uns herüber, wir waschen sie und am nächsten Tag kriegen sie ihre verfluchten Bettlaken, Tischtücher und Kissenbezüge perfekt gebügelt zurück.
Inzwischen ist es draussen neblig geworden, als wäre eine Riese vorbeigejoggt und hatte mit seinem Atem die Häuser und Felder angehaucht. Die Fensterläden schliessen sich mit einem müden Quietschen und die Dunkelheit umarmt mich von hinten, so wie es Karlina immer tat. Vielleicht sollte ich doch mal rüber, nur kurz um zu schauen, denke ich. Nur ganz kurz, Mama muss es ja nicht wissen, denke ich, und dann denke ich nicht mehr und falle nur noch. Von weit her meine ich ein Knacken auf dem Gang zu hören, das Klimpern eines Schlüssels- oder ist es eine Armbanduhr? – und mir ist, als würde es einen Moment lang kühl. Ich falle, der Schlag umarmt mich von hinten und haucht mir einen Kuss in den Nacken. Im Schlaf wird alles wieder gut.
Die Schülerinnen und Schüler hatten die Aufgabe, in ihren Texten Bezug zum Festivalthema der BuchBasel («Über die Grenze») herzustellen. Die Texte durften maximal 5000 Zeichen lang sein. Eine Jury bestehend aus Autorin Irena Brežná, dem Literaturkritiker und ‐vermittler Urs Heinz Aerni, dem Germanisten und ehemaligen Lehrer Markus Fink sowie zwei Gymnasiasten. Wir von der TagesWoche publizieren die drei Siegertexte und gratulieren herzlich.