Keiner zu klein, grösser als sein Bruder zu sein

Mit «Manchester by the Sea» und «Live by Night» gibts ab heute eine doppelte Portion Affleck im Kino zu sehen: Die Brüder Ben (44) und Casey (41) besetzen die jeweiligen Hauptrollen – und zeigen uns, wie der kleine Bruder dem grossen plötzlich den Rang streitig macht.

Lassen Sie sich nicht täuschen: Das Foto ist schon älter. Mittlerweile hat eher Casey Affleck (r.) was zu schmunzeln. 

(Bild: Chris Pizzello)

Mit «Manchester by the Sea» und «Live by Night» gibts ab heute eine doppelte Portion Affleck im Kino zu sehen: Die Brüder Ben (44) und Casey (41) besetzen die jeweiligen Hauptrollen – und zeigen uns, wie der kleine Bruder dem grossen plötzlich den Rang streitig macht.

«Es wäre das erste Mal, dass jemand einen Oscar gewinnen würde, der im Alter von zehn bis 14 seine Zähne nicht putzte», witzelte Hollywood-Star Ben Affleck kürzlich bei Talkmaster Jimmy Kimmel über seinen jüngeren Bruder Casey (siehe Video).

Auslöser des Nähkästchen-Geplauders war Caseys Gewinner-Rede bei den Golden Globes, in der er sich ausführlich bei Amazon, der preisverleihenden Hollywood Foreign Press, ja sogar bei Jugendfreund Matt Damon bedankte. Über Bruder Ben verlor er kein einziges Wort. 

Ja, wieso denn nicht? Die internationale Presse gab sich entrüstet. Denn Ben war es doch, der Casey zum Star hochzüchtete. Der ihn in «Good Will Hunting» (1997) an seine Seite nahm. Der dem Bruder in seinem Regie-Debüt «Gone Baby Gone» (2007) die erste grosse Hauptrolle verschaffte. Der ihm über das schlüpfrige Parkett Hollywoods half – auf dem er selber vor nicht allzu langer Zeit über «Gigli» (2003) und Co. stolperte – und somit den Weg wies Richtung Golden Globe und Oscar-Nominierung. Ein bisschen Dank dafür wäre nicht zu viel verlangt, oder?

«Manchester by the Sea»: der kleine Bruder ganz gross

Es stimmt: ohne Ben kein Casey. Doch wie sagt man im Englischen so schön: The tables have turned, das Blatt hat sich gewendet, und plötzlich ist der Kleinere nicht mehr ganz so klein. Plötzlich ist er grösser, als es sein grosser Bruder je gewesen ist oder sein wird – und dieser Schritt gelang ihm ganz allein. 



Merken Sie sich dieses Gesicht, es wird Ihnen in Zukunft noch oft begegnen: Casey Affleck in «Manchester by the Sea». 

Merken Sie sich dieses Gesicht, es wird Ihnen in Zukunft noch oft begegnen: Casey Affleck in «Manchester by the Sea».  (Bild: Claire Folger)

Übertrieben? Nein, Sie brauchen sich nur «Manchester by the Sea» anzusehen, um zu verstehen, was wir meinen. In Kenneth Lonergans neustem Film spielt Casey Affleck die Hauptrolle: Lee Chandler ist ein verbitterter Hauswart im verschneiten Boston, der nach dem Tod seines Bruders per Testament plötzlich in die Rolle des Vormundes für seinen pubertierenden Neffen Patrick – überraschend ungezwungen gespielt vom Newcomer Lucas Hedges – gezwungen wird. Es ist der Beginn einer zweistündigen Tour de force, eines Dramas in fünf Akten, das man fast nicht aushalten kann, aber aushalten will. 

Schuld daran ist: Casey Affleck. Er mimt den vom Schicksal Geläuterten dermassen authentisch, dass oft schon seine Blicke ausreichen, damit man sich unter seinem Kinositz verstecken, der Grausamkeit auf der Leinwand entfliehen möchte. Aber man tuts nicht. Denn der jüngere Affleck legt in den kleinsten Bewegungen die bedeutendsten Facetten seines Charakters frei, und leistet damit so gute Arbeit, dass man alle – manchmal schöne, oft schwere – Passagen mit Lee Chandler gemeinsam durchleben möchte. 

«Live by Night»: der grosse Bruder ganz klein

Damit gibt er «Manchester by the Sea» genau das, was «Live by Night» von Grund auf fehlt. Ben Affleck gab für seinen neusten Film den Hauptdarsteller, Regisseur, Drehbuchautor und Produzent. Nach nochmals zwei Stunden Qual – dieses Mal der schlechteren Art – darf man getrost behaupten: Affleck der Ältere versagt auf mindestens drei Ebenen. 

Dabei kocht er eigentlich nach einem alten Rezept: Gangster mit Herz, bleischwere Überfälle, eine unmögliche Liebe und viel Bostoner Genuschel – das kennt man alles schon von seiner soliden zweiten Regiearbeit «The Town» (2010). Trotzdem will das neuste Werk nicht funktionieren.  

Schuld daran ist: Ben Affleck. Er mimt den Kriminellen Joe Coughlin, der sich zur Zeit der Prohibition gross am Geschäft des Alkoholschmuggels beteiligt – der Liebe wegen natürlich. Wobei mimt hier schon ein zu grosses Kompliment darstellt: Mehr als klischiert zusammengekniffene Augen und einen permanenten leichten Anschiss im Gesicht kriegt man bei ihm kaum zu sehen. Und wenn er Sätze à la «Ihr wisst nicht, mit wem ihr es zu tun habt» zwischen seinen versteiften Kiefern herauspresst, haben auch wir einen eher massiven Anschiss im Gesicht. 



Dieses Gesicht wiederum werden Sie nach zwei Stunden voller zugekniffener Augen und angehobener Augenbrauen verdrängen wollen: Ben Affleck in «Live by Night». 

Dieses Gesicht wiederum werden Sie nach zwei Stunden voller zugekniffener Augen und angehobener Augenbrauen verdrängen wollen: Ben Affleck in «Live by Night». 

Ben und seine Karriere-Tiefs 

Ben Affleck war noch nie für sein vielfältiges Schauspieltalent bekannt. Schon in «Good Will Hunting» strahlten vor allem seine Zähne in seinem stets geöffneten Mund. Doch es gab auch lichte Momente, «Dogma» (1999) zum Beispiel. Man spürte einen gewissen Esprit, im Englischen treffender als wit bezeichnet, aufblühen. 

Dann kamen «Pearl Harbor» (2001), «Daredevil» (2003) und im gleichen Jahr noch dieses unsägliche «Gigli» mit dieser unsäglichen Jennifer Lopez – und Ben Affleck wurde zum verletzten Reh für die medialen Bluthunde.  

Casey Affleck, der Schattenläufer

Wusste man damals schon von seiner Vergangenheit Bescheid, konnte er einem richtig leid tun. Denn ein Grund dafür, wieso die Brüder Affleck sich beruflich wie auch privat so nahe stehen (siehe Video), ist ihr Elternhaus oder besser die elterliche Bruchbude, in der sie gross geworden sind: Ben und der drei Jahre jüngere Casey litten unter einem schwer alkoholsüchtigen Vater, der sich durch zig Gelegenheitsjobs soff. Ein «Desaster von einem Trinker» nannte ihn Casey kürzlich in einem Radio-Interview. Als dieser neun Jahre alt war, zog der Vater aus, trank sich durch einige Jahre Einsamkeit und landete schliesslich in der Entzugsklinik.

Es ist ein Muster, das sich durch ganze Generationen der Familie Affleck zog: Von der Grossmutter über den Vater bis zum ältesten Sohn Ben, der um die Jahrhundertwende ebenfalls in die Reha musste. Da war es noch Casey, der seinem Bruder eine Stütze war: «Ich werde immer hinter ihm stehen und ihn lieben. Wir sind uns sehr nahe», meint Casey dazu. 

Schliesslich haben die beiden auch einen langen gemeinsamen Weg hinter sich: Zusammen wuchsen sie in einem Vorort von Boston auf, erhielten schon als Kinder kleinere Rollen und hatten den selben Schauspiel-Lehrer an der Highschool – wobei sich Ben schon damals als der Ambitioniertere von beiden zeigte und dies auch durch ihre jungen Jahre blieb.

Nach dem Schulabschluss und Kurzaufenthalten an verschiedenen Universitäten lebten sie für einige Jahre gemeinsam mit Matt Damon und weiteren Freunden in L.A. – wo auch sonst, wenn man im Filmbusiness richtig Fuss fassen will. Der damals 25-jährige Ben etablierte sich dank früher Publikumserfolge wie «Good Will Hunting» und «Chasing Amy» (beide 1997) schnell in der harten Industrie. Bruder Casey hatte bei beiden Filmen eine Nebenrolle inne – im Schatten seines Bruders, wo er über ein Jahrzehnt lang verweilte. Auch, weil sich der Jüngere der beiden nie wirklich wohl fühlte in der Welt der Stars und Sternchen: «Ich hasse Los Angeles», sagt er heute noch. 

Schelten für Ben, Oscar für Casey

Dann kam das Jahr 2007, «Gone Baby Gone» und «The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford», zwei verdiente Oscar-Nominierungen – ohne Gewinn zwar, aber dennoch: Casey fasste Fuss. Ben seinerseits erholte sich von seiner Schaffenskrise, liess sich als Regisseur feiern und durfte sich für «Argo» (2012) diverse goldene Männchen ins Regal stellen. 

2017 nun werden es wohl eher goldene Himbeeren sein, die Anti-Oscars für herausragend schlechte Leistungen. Als Batman (wahlweise auch Batfleck genannt) in «Batman vs. Superman» (2016) hagelte es für Ben massive Kritik. Dann wurde vor wenigen Tagen bekannt, dass er sich als Regisseur einer weiteren Batman-Verfilmung zurückzog. Nach «Live by Night» ein guter Entscheid: Für das überkandidelte Gangster-Drama wird schon jetzt mit bis zu 75 Millionen Dollar Verlust gerechnet. 

Für Ben gibt es Schelten, für Casey bald einen Oscar. Der Ältere macht aus vielem wenig, der Jüngere aus wenig viel, wie «Manchester by the Sea» und «Live by Night» exemplarisch zeigen. Die brüderliche Liebe wird deshalb nicht zerbrechen, unser Bild von ihnen hingegen schon. Und so rufen wir: Go, Team Casey! 

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