Darf Spoken Word in Buchform existieren? Das neue Buch von Guy Krneta ist auf jeden Fall grossartig. Solange man es nicht liest.
Alle lieben Berndeutsch. Das ist unumstritten. Vom Zürcher Niederdörfli bis zum Appenzeller Provinznest werden Berner als sympathisch wahrgenommen, sobald sie den Mund aufmachen. Die Reaktion, die man als Berner nach dem ersten Satz kriegt, reicht vom zufrieden seufzenden «Ach, Berndeutsch…» bis zum eklatant-euphorischen «SO! SO! SO! schön».
Was für narzisstische Gefühle diese hartnäckige Verniedlichung bei uns Bernern auslöst, will ich an dieser Stelle nicht erörtern. Fest steht, dass es in der Mundartliteratur nicht anders aussieht: Die meisten erfolgreichen Spoken-Word-Literaten (auch «Spoken-Script-Autoren» genannt) stammen aus dem Bärnbiet. Pedro Lenz, Matto Kämpf, Guy Krneta – alles Bärner Giele. Das ist gut so, schliesslich ist Berndeutsch auch einfach ein wahnsinnig grossartiger Dialekt (womit wir bei den narzisstischen Gefühlen wären).
Problematisch wird diese Haltung aber dann, wenn der Spoken-Word-Event, bei dem man friedlich Lokalbier-nippend an einem Tisch sitzt und zuhört, was aus Guy Krnetas hübschem Gring kommt, erbarmungslos zwischen zwei Buchdeckel gezwängt wird.
Von der Lorrainer Spelunke ins Yuppie-Büchergestell
Genau das ist bei Krnetas vierter «Gesunder Menschenversand»-Publikation eingetroffen. Eben noch auf der liebenswert-ranzigen Bühne einer Lorrainer Spelunke vorgetragen, findet sich «Unger Üs», Guy Krnetas herzerwärmende Familiengeschichte um Grossvater Wenger, Cousine Vivienne, Onkel Sämi und der schwierigen Liebschaft Isabel, nun in Buchform wieder.
Zumindest hoffe ich, dass es einen Spelunken-Schritt dazwischen gab, der zwielichtige Ausdruck «Spoken Script» lässt da nicht wirklich durchblicken. Die Geschichte könnte auch einfach gesprochen klingen und nie die Ohren eines Spelunken-Publikums erreicht haben.
Gibt es eine Daseins-Berechtigung für Spoken Word-, bzw «Spoken Script»-Literatur? Sicher ist, dass der Autor eine weitere Plattform kriegt und Bärndütsch-Enthusiasten eine hübsche gebundene Konserve ins Bücherregal stellen können. Aber der Rest?
Kauft jemand, der Krneta und Co. noch nie gesehen hat, diese Publikationen, die Nicht-Berner an den Rand der Entziffer-Verzweiflung (soll mal einer «I ds Hotelzimmer ynetschaupe u ne füdleblutt unger dr Tuschi überrasche» auf den ersten Anlauf hin vorlesen, geschweige denn verstehen) bringen? Wären solche Texte nicht auf einer CD besser aufgehoben?
Daseinsberechtigung trotz phonetischer Belastung
«Aber sicher doch!», behauptet mein (Basler) Mitbewohner selbstbewusst und zeigt mir seine «Spoken Script»-Sammlung. Für ihn sind Bücher von Spoken-Word-Autoren sogar noch besser als deren Lesungen auf Spelunken-Bühnen. Die Geschichten seien ihm näher, wenn er sie sich selbst vorlese, meint er. Bloss lesen ginge hingegen gar nicht. Das führe nur zu massiver phonetischer Überlastung. Aber das Vorlesen erlaube eine völlig neue Leseerfahrung: Man hört sich sprechen, ist bei sich.
Und fühlt sich verbunden. Weil halt Heimat. Aber nicht auf diese grausame «Swissness»-Art, sondern aufrichtig: Oltner Bahnhofbuffet, geraniengeschmückte Vorgärtli, Stammtischweisheiten, und bei Krneta: Der Grossvater Wenger, der zu allen Familien- und Lebensgeschichten seinen Senf dazugibt. Vielleicht ähnlich verklärend wie die Appenzeller-Werbung, aber facettenreicher und besser gemacht. Und in einem so schönen Berndeutsch, dass die Peter von Matts dieser Schweiz sich ihre Anti-Mundart-Attitüde sonstwohin stecken können.
Der Lenz’sche Swag
Leider wird gerade das Berndeutsch beim Vorlesen ein bisschen zum Problem. Abgesehen von der Tatsache, dass es mindestens 30 verschiedene Berner Subdialekte gibt (ich beharre aus Prinzip auf Mani Matter als Richtlinie für alle Berner, sage aber statt «I hanes Zundhölzli azündt» auch eher «I hanes Zündhöuzli azündet»), sind wir heute alle etwas Pedro-Lenz-degeneriert und verfallen beim Vorlesen gefährlich schnell in den Lenz’schen Swag, sprich: Oberaargauer Kaskade mit unterschwelligem Büezer-Gebläff. Bei Lenz klingt das cool, bei uns und bei 90 Prozent aller Berner Poetry-Slammer nicht so.
Trotzdem: Solange «Spoken Script» Spoken-Word bleibt, bin ich zufrieden. Auch wenn das Spoken Word nur im Kopf stattfindet. Dialekt hin oder her, in erster Linie muss eine gute Geschichte erzählt werden. Das können die Berner, und Krneta ganz besonders. Und trotz Vorgärtli und Konjunktiv-Schleuder (ein exzessiv betriebenes Stilmittel Krnetas, das keiner Worte bedarf – im Video wirds ersichtlich) ist das letztlich dann einfach nur noch SO! SO! SO! schön.