Kultwerk #2: Melody Nelson

Vor 40 Jahren erschien Serge Gainsbourgs Meisterwerk «Histoire de Melody Nelson».

Das Kultalbum wird nach 40 Jahren neu veröffentlicht.

In dieser Rubrik stellen wir jeweils ein Kultwerk vor, das in keiner Sammlung fehlen sollte.

Als Serge Gainsbourg 1968 den Film «Slogan» drehte, stand ihm eine bedeutend jüngere Schauspielerin zur Seite: Jane Birkin. Neckisch, englisch, verführerisch. Die beiden wurden ein Liebespaar und vertonten lässig ihre Lust: Die Singles «Je t’aime … moi non plus» und «69 Année érotique» sorgten noch immer für Schlagzeilen, als Gainsbourg bereits den nächsten Coup vor Augen hatte: ein Konzeptalbum, das an Nabokovs «Lolita» – einen seiner Lieblingsromane – angelehnt war.

1971 setzte er seine Idee in Musik um und schrieb «Histoire de Melody Nelson»: In sieben Liedern (und insgesamt 27 Minuten) schildert Gainsbourg darin, wie ein alternder Franzose in seinem Rolls-Royce eine minderjährige, britische Velofahrerin anfährt. Sie fällt runter, ihr Röckchen hoch – und er verfällt ihr. Mit sonorer Stimme erzählt Gainsbourg den Beginn einer fatalen Affäre. Schlagzeug und Bass liefern dazu trockenen Funk, eine Gitarre verliert sich in psychedelischen Soli und ein Streicherensemble deutet bedrohlich an, dass diese Geschichte kein gutes Ende nehmen dürfte.

Jane Birkin schlüpft in die Rolle von Melody Nelson, mimt auf dem Plattencover eine rothaarige Lolita und haucht im Studio kaum mehr als ihr Pseudonym ins Mikrofon. Den Rest besorgt Gainsbourg, der sie zu sanftem Easy Listening umgarnt, mit ihr verliebt Walzer tanzt und ihr in einem Stundenhotel zu treibenden Rhythmen die Unschuld nimmt.

Als Melody, vom Heimweh geplagt, nach England zurückkehrt, schwört ihr obsessiver Liebhaber in seiner Verzweiflung einen «Cargo culte» herauf – und richtet grösstes Unheil an: Das Flugzeug stürzt ab, Melody in den Tod. Zurück bleibt ein gebrochener Mann, der nichts mehr zu verlieren hat – und keinen Gott, an den er glauben kann.

Die dunkle Botschaft und die irritierenden Arrangements schreckten 1971 die Masse ab. Sylvie Simmons schreibt in ihrer Gainsbourg-Biografie, dass unmittelbar nach der Veröffentlichung gerade mal 15 000 Exemplare über die Ladentische wanderten. Nur ein kleiner Kreis schätzte damals diese «musikalische Literatur», wie es Schauspielerin Isabelle Adjani nannte.Heute wissen wir: «Melody Nelson» ist ein zeitloses Album, das noch immer nachhallt: Das französische Easy-Listening-Duo «Air» liess sich ebenso davon inspirieren wie der amerikanische Songwriter Beck Hansen, der von «einer der grandiosesten ­Verbindungen von Rockband und Orchester» spricht.

Wem die fatale Affäre bisher entgangen ist: Zum 40-Jahr-Jubiläum wird «Histoire de Melody Nelson» mit reichlich Bonusmaterial neu veröffentlicht.

 

Gainsbourg & Birkin

Serge Gainsbourg (1928) und Jane Birkin (1946) lebten von 1969 bis 1980 zusammen. Aus ihrer Beziehung ging nicht nur Musik, sondern auch ein Kind hervor: Charlotte, die wie ihre Mutter Schauspielerin und Sängerin ist. Jane Birkin tritt am Sonntag, 6.11. (18 Uhr) in Riehen auf. In der Fondation Beyeler singt sie – begleitet von vier japanischen Musikern – Gainsbourg-Chansons.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04/11/11

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