Mit ihrem Album «Noise» schuf die britische Band Archive eine Tonspur zu den dunklen Seiten der Nuller-Jahre. Und die hört sich noch immer fantastisch an.
Als in den 1990er-Jahren Bands wie Massive Attack und Portishead den melancholischen Trip-Hop erfanden, blickte die Welt neugierig nach Bristol – und entdeckte dabei eine weitere interessante Band: Archive. Elektronische Klänge und Rhythmen legten das Fundament für die tragend-säuselnde Frauenstimme von Roya Arab. Für das Debütalbum «Londinium» heimste die britische Band berauschende Kritiken ein.
Schon beim zweiten Album, «Take My Head», manifestierte sich eine Eigenart der Gruppe: Die Menschen am Frontmikrofon kamen und gingen, die beiden Männer hinter Computer und Synthesizer blieben. Darius Keeler und Danny Griffiths bilden das kongeniale Songwriting-Duo, das Archive seit mehr als 20 Jahren zusammenhält. Sie waren es auch, die die stilistische Ausrichtung der Band zunehmend vom TripHop Richtung Space- und Progressive Rock verschoben.
Den künstlerischen Höhepunkt erreichte die Band im neuen Jahrtausend, mit dem charismatischen irischen Sänger Craig Walker. 2002 gab er seinen Einstand auf einer 16-minütigen Single (!), zu einer Zeit, als sich ausser Radiohead kein anderer Major-Act auf derlei sperrige Experimente einliess. Archive wurden mit den progressiven Rockbands der frühen 1970er-Jahre verglichen, allen voran mit Pink Floyd. «Nichts gegen diese Bands, ich höre die gerne, mein grösster Einfluss aber ist Jim Morrison», erzählte mir Craig Walker damals bei einem Rencontre in Paris. «Er ist für mich noch immer der grossartigste Sänger, den die Rockmusik hervorgebracht hat, ein Poet, ein Energiebündel, ein Extremist.»
Salzstreuer über den Wunden
Auch Walker wirkte wie ein Getriebener. Backstage im legendären Konzertsaal Olympia drehte er sich einen Joint, fuhr sich durch das zerzauste, rotblonde Haar und sprach über die kranke Zivilisation: «Das Leben ist keine Reality-TV-Show, sondern eine grosse Aufgabe, an der viele scheitern. Wir arbeiten zu viel, sind trotzdem verschuldet, flüchten uns in Banalitäten, in die Vergangenheit, in Drogen.» All diese Eindrücke verhandelte er auf «Noise», jenem meisterhaften Album aus dem Jahr 2004. Seine Texte waren pointiert, direkt, ungeschminkt («Fuck U»). Da beackerte einer die Wunden des Menschen mit dem Salzstreuer.
«Get Out», schrie er etwa ins Mikrofon: «Fahr ab, hau ab, ich mag nicht, wie du mich anschaust.» Furcht und Paranoia? «Ja, der Song gibt das Gefühl wieder, in einem Raum zu sein, umgeben von Koksern, die alle völlig von sich eingenommen sind und zwecklose Unterhaltungen führen.»
Im Lied «Waste» («Verschwendung») wiederum schilderte Walker mit wenigen wiederkehrenden Worten die Gedanken eines apathischen, verzweifelten Trinkers, der sich einsam an sein Glas klammert. Es ist das Bild von einem, der am Ende der Strasse angelangt ist.
Seine eindringlichen Melodien werden von clever arrangierten Harmonien, Loops und Samples getragen. Brachiale Gitarrenwände wechselten sich fliessend mit Streicher-Teppichen ab: Archive betören mit dramatisch-hypnotischen Mustern.
Ihre Skizzen von gebrochenen Figuren und menschlichen Abgründen stiessen ausserhalb ihrer Heimatinsel auf mehr Begeisterung, ganz besonders in Frankreich wurden Archive für «Noise» vergöttert und spielten in grossen Hallen und als Headliner auf Festivals.
Auf «Noise» folgte im selben Jahr noch ein Unplugged»-Album, kurz darauf stieg Sänger Craig Walker aus. Ein grosser Verlust, für beide Seiten. Archive vermochten zwar mit «Lights» noch einmal ein meisterhaftes, episches Album zu schaffen. Der künstlerische und kommerzielle Höhepunkt lag aber hinter ihnen, was aber natürlich nicht heisst, dass Archive noch immer ein Live-Erlebnis der Sonderklasse sind.
Archive live: Samstag, 12. August am Open Air Basel auf dem Kasernenareal.