Kultwerk #4: «American Psycho»

Beim Erscheinen von «American Psycho» sorgte Bret Easton Ellis für erhitzte Diskussionen. Der Thriller trifft den Leser bis ins Mark, sollte aber trotzdem, oder gerade deshalb, in keiner Sammlung fehlen.

American Psycho (Bild: PD)

Beim Erscheinen von «American Psycho» sorgte Bret Easton Ellis für erhitzte Diskussionen. Zu unheimlich schien 1991 der Gedanke, dass ein Bateman nach wie vor unbehelligt unter uns wandeln könnte. Zwei Jahrzehnte, eine Hollywoodverfilmung (2000), einen Kweku Adoboli und einen geräumten Zucotti Park später bleibt fraglich, ob die Realität nicht auch in diesem Fall die Fiktion bereits überholt hat.

Es gibt Thriller, die verschlingt man mit wohligem Schauer. Hat man sie ausgelesen, schenkt man sie möglicherweise den Liebsten zu Weihnachten oder stellt sie gut sichtbar ins Regal, um eines Tages ein zweites Mal darin zu schmökern.

«American Psycho» ist keines dieser Bücher. Im Gegenteil: Bret Easton Ellis’ Roman ist eine einzige Tortur, eine Tour de Force jenseits der Schmerzgrenze, im Laufe derer man sich mehr als einmal heimlich wünscht, nie mit Lesen angefangen zu haben. Doch zu diesem Zeitpunkt ist es meist zu spät, man ist schon gefangen, befindet sich als Beute in den Fängen von Patrick Bateman, diesem fürchterlichen Mann ohne Eigenschaften, der sich sukzessive zum Serienmörder entwickelt.

Mit zunehmendem Grauen, mit Ekel und teils gar körperlicher Übelkeit dringt man immer tiefer in den kranken Kopf des Killers ein, der tagsüber den erfolgreichen Wallstreet-Banker gibt, mit Bekannten in absurd überteuerten Restaurants die Unterschiede verschiedenener Kleidermarken und Mineralwasser erörtert, sich durchs New Yorker Nachtleben kokst und sich an der Sinnlosigkeit und Leere seiner Existenz rächt, indem er immer wahlloser Leute umbringt, ein immer bestialischeres Blutbad anrichtet.

Postmoderner Wahnsinn

In der Figur des Patrick Bateman kulminiert der rücksichtslose Kapitalismus der 80er-Jahre, der überzeichnete Zynismus der Hosenträger-Yuppies, der postmoderne Wahnsinn der entfesselten Wall-Street-Wirtschaft. Nicht mehr um einen fies-faszinierenden Gordon Gekko geht es hier, um den Prototypen des bösen Bankster, sondern um eine ganz neue Dimension der Menschenverachtung: um den puren Nihilismus eines jungen Mannes, der vor lauter aufgetürmtem Wohlstand an zunehmendem Realitätsverlust leidet. In diesem Schizo-Zustand wird es für den Investmentbanker zum Ende hin völlig unmöglich, zwischen den entfesselten Zeichen zu unterscheiden, zwischen sadomasochistischer Symbolik und echtem Leid, zwischen inneren und äusseren Abgründen.

Hat der Psychopath Bateman tatsächlich all diese Leute umgebracht, oder ist es nur ein bizarrer, psychotischer Albtraum, aus dem er keinen Ausweg mehr findet? Der Autor lässt diese Frage bewusst offen, lässt den Soziopathen auf freiem Fuss – und setzt damit seiner tiefschwarzen Satire das dornige Krönchen auf.

«This is not an exit» steht am Ende über der Tür einer Bar in Manhattan: Dies ist kein Ausweg. Man liest es heute noch, heute erst recht, mit leisem Schaudern.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18/11/11

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