Kultwerk #42: Wattstax

Vor 40 Jahren feierten 100’000 Afroamerikaner am Wattstax-Festival in Los Angeles ihre Identität.

Mit viel Soul machten sich afroamerikanische Stars 1972 stark für die Bürgerrechte.

Vor 40 Jahren feierten 100’000 Afroamerikaner am Wattstax-Festival in Los Angeles ihre Identität.

Es ist eine mythische Szene der Black Music History: Ein schwarzer Cadillac fährt ins Stadion, heraus schält sich ein baumlanger Kerl, der sein Gesicht unter einem Schlapphut verbirgt. Zu den schreienden Funk-Gitarren von «Shaft» schreitet er auf die Bühne, Bürgerrechtler Jesse Jackson lüpft ihm den Hut. In goldenen Ketten reckt der Glatzköpfige die Arme den 100 000 meist schwarzen Zuschauern entgegen, die ihn, Isaac Hayes, auf dem Zenit seines Ruhmes an seinem 30. Geburtstag feiern. Es ist das fulminante Finale von Wattstax, jener mehrstündigen Zusammenkunft im Memorial Coliseum von L. A. Ein Event, der weitaus mehr als ein Musikfestival war – eine gewaltige Manifestation afroamerikanischen Bewusstseins.

Benannt wurde das Ereignis einerseits nach der Vorstadt Watts, in der es sieben Jahre zuvor schlimme Rassenunruhen gegeben hatte. Vom Veranstalter rührt die zweite Namenshälfte her: Die Soul-Plattenfirma Stax (eigentlich in Memphis beheimatet) hatte die Idee zum Festival, das sie mit einer All-Stars-Truppe ihrer Künstler bestritt. Einerseits war Wattstax, für das die Zuschauer den symbolischen Preis von einem Dollar Eintritt zahlten, als Memorial für die Riots gedacht, als Feier einer trotzig wiedererstarkenden afroamerikanischen Würde, die vier Jahre nach dem Mord an Martin Luther King noch immer in ihren Grundfesten wankte. Zugleich war Stax’ Ansinnen eigennützig: Dem Label ging es schlecht, es hatte die Rechte an Atlantic Records verloren – und zudem den grössten Star, Otis Redding, durch einen Flugzeugabsturz. Ein Festival würde wieder Schlagzeilen in den ganzen Staaten produzieren.

Seele des schwarzen Amerikas

Wattstax wird oft als das afroamerikanische Woodstock bezeichnet, was mit der Ähnlichkeit der Namen natürlich auch antizipiert war. Doch während sich im Norden New Yorks der Protest aus dem Blickwinkel der Hippiejugend gegen den Vietnamkrieg und das Establishment richtete (schwarze Künstler waren kaum beteiligt), wurde im Süden von Los Angeles eine gemeinsame Seele des schwarzen Amerikas geschmiedet. Nicht Blumen im Haar hatten hier die Symbolkraft, sondern die Faust: Jene reckte Jesse Jackson den Zuschauern entgegen, als er seine flammende Eingangsrede hielt: «I am somebody! I may be poor, I may be in prison, but I am somebody!» Was folgte, war ein stattliches Aufgebot an Soul- und Funk-Prominenz.

Kim Weston stimmte mit «Lift Every Voice And Sing» die schwarze Hymne Amerikas an, leuch-tenden Gospelspirit brachten die Staple Singers ins Stadion, und die Rance Allen Group feuerte einen ersten Höhepunkt ab. Die Bar-Kays liessen die Blaxploitation-Figur «Shaft» ein erstes Mal hochleben, Bluesheld Albert King trieb seine Gitarre zu brillanten Gesängen an, und in die einbrechende Dunkelheit sang Luther Ingram seinen balladesken Soul hinein. Fast aus den Fugen geraten wäre das Konzert während des humorvollen Sets von Rufus Thomas, der mit seinem «Funky Chicken» die Masse so aufheizte, dass etliche die Absperrungen überwanden, um auf dem Rasen zu tanzen. Als Höhepunkt schliesslich das bildgewaltige Erscheinen von Isaac Hayes, der als Black Moses zu jenem Zeitpunkt zur Ikone für viele Schwarze avanciert war.

Für die Nachwelt dokumentiert wurde das Ereignis in Ton und Film: Die zwei legendären Doppel-LPs sind mittlerweile auf CD erhältlich und Mel Stuarts filmischer Mitschnitt auf DVD. Letzterer ist zudem ein wertvolles Zeitzeugnis: Zwischen den Konzertsequenzen blendet der Regisseur immer wieder in die Strassen und Shops von Watts, lässt Anwohner zu politischen, gesellschaftlichen und sexuellen Fragen zu Wort kommen, setzt Komiker Richard Pryor mit beissenden Kommentaren vor die Kamera. Auch 40 Jahre nach diesen sechs denkwürdigen Stunden bleibt Wattstax einer der grössten Meilensteine der Geschichte des Soul als auch der Bürgerrechtsbewegung.

Isaac Hayes
Als Sänger, Pianist und Komponist viel­seitig talentiert, gehörte Isaac Hayes (1942–2008) in den 60er- und 70er-Jahren zu den treibenden Kräften viriler Soul- und treibender Funkmusik. Der Auto­didakt schrieb Hits für Künstler wie Sam & Dave («Soul Man») und Filme wie «Shaft», wofür er einen Oscar erhielt.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.08.12

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