Kultwerk #47: Blow Up

Der italienische Filmemacher Michelangelo Antonioni würde am 29. September 100 Jahre alt. 1966 fing er mit «Blow Up» den Zeitgeist des Swinging London ein.

Da guckt er! David Hemmings im Verwirrspiel um Wahrheit und Wahrnehmung. (Bild: Cinetext Bildarchiv)

Der italienische Filmemacher Michelangelo Antonioni würde am 29. September 100 Jahre alt. 1966 fing er mit «Blow Up» den Zeitgeist des Swinging London ein.

Am 29. September muss sich Italien entscheiden: Welchen Geburtstag soll es feiern? Jenen von Silvio Berlusconi, der 76 Jahre alt wird (und vielleicht allmählich schweigsam?). Oder jenen von Michelangelo Antonioni, der am selben Tag 100 Jahre alt würde (aber seit fünf Jahren schweigt. Für immer). Kulturfreunden fällt die Wahl leicht. Sie sagen sich: Lieber «Blow Up» als «Bunga Bunga». Wenn schon nackte Brüste, dann bitte mit intellektuellem Subtext. Denn «Blow Up» steht nicht einfach für eine Party – auch wenn der Film im Swinging London spielt und darin die Miniröcke flattern und die Maxi-Rocker knattern (The Yardbirds, als Statisten!).

Arroganter Schnösel

Protagonist ist der Fotograf Thomas: Jung und immer auf dem Sprung, im Studio oder im Rolls-Royce-Cabrio. Ganz schön erfolgreich ist er auch, weshalb die Models trotz seiner despektierlichen Art und Weise Schlange stehen. Dass der arrogante Schnösel den naiv-hoffnungsvollen Teenies (darunter die blutjunge Jane Birkin) auch mal an die Wäsche geht, macht ihn nicht sympathischer. Und dabei scheint ihn die Ausbeute nicht einmal zu befriedigen, nein, im Gegenteil, sie lässt ihn gleichgültig – wie auch die Tatsache, dass seine Frau vor seinen Augen fremdschläft.

Thomas ist ein Hipster voller Aktivismus und doch schaurig leer und gelangweilt. Bis, ja, bis er im Park zufällig ein turtelndes Paar fotografiert und ihn die Frau anfleht, ihm den Film auszuhändigen. Er spielt mit seiner Macht und ihrer Pracht, vergrössert die Bilder («blow up») in der Dunkelkammer, bis ihm etwas dämmert: Da liegt ein Toter im Gebüsch.

Ein Verwirrspiel um Wahrheit und Wahrnehmung nimmt seinen Lauf, bei dem der Fotograf, dessen Beruf die unbestechliche Beobachtung zu sein scheint, am Ende nicht mehr weiss, was Schein ist – und was Sein.

Ein bisschen aufgeblasen

Seine Faszination für das «Swinging London» soll Antonioni dazu geführt haben, 1966 den Zeitgeist einzufangen. Sich treu bleibend hat er ihn mit bedrückend entrückten Figuren bestückt – erstmals in seiner Karriere in englischer Sprache.

Kult? Kunst? Klar! All die Seminararbeiten seither sollen doch nicht umsonst gewesen sein! Schaut man sich den Film aber aus sicherer Distanz an, so darf man auch zu fragen wagen, ob all die Lobeshymnen nicht ein bisschen – nun ja – aufgeblasen daherkommen. Kubrick, Leone, Bergman fahren mir jedenfalls stärker ein. Und dass Cineasten angesichts von «Blow Up» damals «von der dynamischen Geschwindigkeit eines TV-Spots» schwärmten, lässt einen heute müde lächeln. Ein ungewöhnlicher Film, keine Frage, aber auch ein überlanger, mitunter überacted (das Dreier-Gekitzel!) Kann man ja mal sagen. Apropos Cannes: Antonioni – er gewann.

(Bild: Keystone)

Der italienische Regisseur, Schriftsteller und Maler Michelangelo Antonioni (1912–2007) war neben Luchino Visconti und Federico Fellini der bedeutendste Pionier des italienischen Nachkriegskinos. In seinen Filmen brachte er meist sein Grundanliegen, die Einsamkeit und Entfremdung in der modernen Industriegesellschaft, zum Ausdruck.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.09.12

Nächster Artikel