Kultwerk #48: Foxtrot

Vor 40 Jahren veröffentlichten Genesis ein Album, das als Meisterwerk des Kunstrock gilt. Zu Recht.

Ein Album aus der Blütezeit der Schallplatten-Klappcover: «Foxtrot» von Genesis (1972).

Vor 40 Jahren veröffentlichten Genesis ein Album, das als Meisterwerk des Kunstrock gilt. Zu Recht.

Genesis? War das nicht diese Band um den lustigen kleinen Briten, der «I Can’t Dance» sang und Grimassen schnitt? Ja, klar, liebe Generation MTV, auch das war Genesis. Doch gehört diese Episode aus dem Jahr 1991 bereits zum zweiten Buch ihrer Schöpfungsgeschichte. Denn zu Beginn führte sie ein Erzengel an die Spitze der Rockmusik: Peter Gabriel.

Dieser war 17, als er 1967 mit Freunden, die denselben Elite-Campus in der Grafschaft Sussex besuchten, eine Schülerband ins Leben rief. Drei Jahre später stiess Phil Collins hinzu: Als Schlagzeuger nahm er zunächst in der zweiten Reihe Platz. Eine gute Wahl, verstand Collins es doch hervorragend, die virtuos aufspielende Band mitzureissen und dennoch songdienlich zu begleiten. So riss er mit seinem Einstieg bei Genesis zuerst seine neuen Mitmusiker, dann die Konzertbesucher vom Hocker – und wirbelte gemeinsam mit Mike Rutherford (Bass), Tony Banks (Keyboards), Steve Hackett (Gitarren) und Peter Gabriel (Gesang und Flöten) als Geburtshelfer einer Musikrichtung, die man mit dem Etikett Art Rock oder Progressive Rock versah.

1972, Genesis hatten bereits drei wenig erfolgreiche Alben veröffentlicht und sich ansatzweise von klassischen Rock-, Folk- und Bluesstrukturen verabschiedet, ignorierten sie noch entschiedener das gängige Popformat, um ihr Faible für grenzüberschreitende Collagen auszuleben und ein Spektrum von Jazz bis Klassik auszuloten, ohne dabei in Beliebigkeit abzudriften.

«Foxtrot» hiess das Album, das am 6. Oktober erschien. Ein Meisterwerk, vom Anfang bis zum Ende. Hier treffen grosse, sehnsuchtsvolle Melodien («Time Table») auf surreale Szenarien und sarkastische Sozialkritik («Get ’Em Out By Friday»). ­Im Eröffungsstück «Watcher Of The Skies» blasen uns magistrale Mellotronklänge ins Gesicht und verdrehen uns rhythmische Spielereien den Kopf. Furiose Instrumentalpassagen kombinieren Genesis mit eindringlichen Gesängen. Fantastisch.

Herausragend ist dieses Album auch, weil es zugleich den Geist herausfordert, Gefühle bedient und die Seele berührt. Wers nicht glaubt, geniesse das 23-minütige Abschlussstück «Supper’s Ready» – ein musikalisches Festmahl, bei dem jeder Taktart-Wechsel, jede harmonische Biegung im Fluss ist, Sinn macht und Sinnlichkeit versprüht. Wenige Progrock-Platten sind voller Wärme, Mystik und Mathematik, ohne völlig verkopft zu wirken. Das gleichzeitig veröffentlichte «Close To The Edge» von Yes etwa ist hörbar schlecht gealtert. «Foxtrot» hingegen macht die Glückshormone heute noch tanzen. Und das im 9/8-Takt. Herrlich abgedreht.

 

 

Peter Gabriels Theatralik


Das Album «Foxtrot» steht auch für den Wandel einer Band, die von der Komposition ausging und diese mit theatralischen Elementen auf die Bühne brachte. So schaute und hörte die Presse genauer hin, als Peter Gabriel 1972 auf einmal listig als Sonnenblume über die Bühne hüpfte oder sich einen Fuchskopf über den Kopf stülpte. Die Theatralik machte die Band weltberühmt und liess ihre Konzertgage über Nacht in die Höhe schnellen: von 60 auf 600 Pfund.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.10.12

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