Kultwerk #61: Schellen-Ursli

Ganz so berühmt wie Heidi ist er nicht, der Ursli. Aber trotzdem kennt ihn fast jedes Kind.

Eine Zipfelmütze wie eine Bergesspitze: Schellen-Ursli. (Bild: Keystone)

Ganz so berühmt wie Heidi ist er nicht, der Ursli. Aber trotzdem kennt ihn fast jedes Kind.

Es sieht unglaublich abgegriffen aus, mein Exemplar vom «Schellen-Ursli». Eine Ausgabe aus dem Jahr 1971 ist es, mit Flecken drauf und Kindergekritzel innen drin, die einst weissen Seiten vergilbt. «150. bis 179. Tausend» steht auf der ersten Seite. Wie viele Ausgaben wohl bis heute, in der 29. Auflage und in diversen Sprachen, gedruckt worden sind?

Unzählbare Male habe ich dieses Buch als Kind vorgelesen bekommen oder selber gelesen. Oder nur die Bilder angeschaut. Heute steht es im Bücherregal meiner Tochter. Eine Kassette hatte ich auch noch, auf der ein Grossvater seinen Enkeln die Geschichte erzählt; darauf das Lied, das sich mir bis heute eingebrannt hat: «Dü da do, Postauto …».

1945 erschien der «Schellen-Ursli» erstmals. Die Bündner Autorin Selina Chönz erzählte in Versform die Geschichte vom kleinen Ursli, der so gerne eine grosse Glocke wollte für den Chalandamarz-Umzug, der im Engadin alljährlich am 1. März stattfindet. Die Kinder läuten dann mit ihren Glocken lautstark den Winter aus. Doch Ursli kommt zu spät und kriegt nur eine ganz kleine Glocke, eine Schelle. Und wird von den anderen Kindern ausgelacht und als Schellen-Ursli verspottet. Bis ihm einfällt, dass doch hoch oben auf dem ­Maiensäss noch eine grosse, schwere ­Glocke hängt. Und er sich allein im Schnee auf den Weg macht, sie zu holen.

Der Künstler Alois Carigiet illustrierte die schöne Geschichte mit Bildern, die heute in der Schweiz fast jedes Kind kennt. Ursli mit den schwarzen, krausen Haaren, der Zipfelmütze, die auf seinem Kopf sitzt, «gradauf wie eine Bergesspitze», die genagelten Schuhe. Die Tiere, die durchs Fenster des Maiensäss hineinblicken und Ursli beim Schlafen beobachten.

Wer ins kleine Dörfchen Guarda reist, in dem die Geschichte angesiedelt sein soll, der blickt sich sicher um nach dem charakteristischen Schellen-Ursli-Heim. Und in der Tat gibt es dort ein Haus, das Carigiet als Vorbild für das Elternhaus des Ursli diente, mit dicken Mauern und mit Sgraffiti bemalt. Und mit einer Rampe, die vom Weg zur Eingangstüre hochführt.

Ganz so bekannt wie Johanna Spyris «Heidi» ist der «Schellen-Ursli» zwar auf der Welt noch nicht. Aber doch gibt es schon ein Museum, eine Gedenkmünze mit Ursli-Motiv und eine Briefmarke. Und die Geschichte, die werden Kinder auch in vielen Jahren noch lesen. Bestimmt.

Alois Carigiet
Der Maler und Grafiker Alois Carigiet (1902–1985) wurde zwar in Trun im Bündnerland geboren, wohnte aber fast sein ganzes Leben lang in Zürich. Carigiet ­illustrierte für Selina Chönz neben dem «Schellen-Ursli» noch «Flurina und das Wildvöglein» und «Der grosse Schnee». ­Daneben schrieb er aber auch selber Kinder­bücher, das bekannteste darunter ist wohl «Zottel, Zick und Zwerg».

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.01.13

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