Hättet ihr es gewusst? Neneh Cherry trug dazu bei, dass Massive Attack vor 25 Jahren den Trip-Hop erfanden. Das Debütalbum «Blue Lines» wirkt noch heute bestens als Sound-Meditation. Im Juli spielen die Briten am Stimmen-Festival.
Sie hiessen The Wild Bunch, und so klang das auch. In den späten 80er-Jahren hatte England den Punk überlebt und den New Wave hinter sich gelassen, aus den USA schwappte der frühe Hip-Hop hinüber, in den Clubs pumpten jene Bässe und Beats, die den britischen Rave, Jungle, Drum’n’Bass ankündigen sollten.
The Wild Bunch, ein Soundsystem aus Bristol, spielte alles, besonders aber jene Schnittmenge aus Dub und Reggae, aus dem Hip-Hop der US-Gründergeneration und R’n’B. Als noch die Rapper hinzukamen, war den zentralen Figuren schnell klar, dass hier ein neuer Sound entstand: «Minimalist lover’s hip-hop» hiess das noch in den frühen Jahren, bevor der Sound seine wirkliche Form gefunden hatte.
«Ein bisschen dies, ein bisschen das – wir nahmen, was uns gerade passte, anstatt nur eine Kultur zu imitieren, über die wir kaum etwas wussten», sagt Grant Marshall in der so sehenswerten wie ausschweifenden Dokumentation über Massive Attack und das Phänomen, das später Trip-Hop wurde. Was man auch noch erfährt: Es wurde viel gekifft. «Wir waren faule Kerle, die in Bristol herumhingen, uns Samples vorspielten und rauchten.»
Es war die Sängerin Neneh Cherry, die nicht nur musikalisch ein paar Ideen beisteuerte, sondern die DJs Marshall und Andrew Vowles zusammen mit dem Rapper Robert Del Naja schliesslich dazu antrieb, ein paar der losen, über Jahre gereiften Ideen zu einem Album zu verdichten. Daraus entstand vor 25 Jahren «Blue Lines», eine Platte, die die 1990er-Jahre musikalisch revolutionierte.
Der Sound zum Wegdröhnen
Massive Attack sorgten dank ihrem charakteristischen Downbeat nicht nur für den Soundtrack zu den Goldenen Jahren der kurzzeitig überall erhältlichen Duftsäcklein, sondern lancierten eine neue Form von Clubbing: Chill Out.
Trip-Hop war der Sound zum Wegdröhnen und Runterkommen im Anschluss an die rauschende Ekstase, und dieser Dämmerzustand des Bewusstseins, in dem Platten wie «Blue Lines» damals aufgelegt wurden, vernebelte für unserein gemeine Hörer den Blick auf die bahnbrechenden Details der Platte hinter den trägen Beats und den schweren Bässen, wobei sie sich intuitiv auch bei Billy Cobhams Debut «Spectrum» bedienten – eine eindringliche Basslinie, die fortan den Ton für das neue Genre setzen sollte.
Ein Album voll visionärer Kraft
Vor vier Jahren wurde «Blue Lines» von den mittlerweile zum Duo geschrumpften Massive Attack als Remastering neu veröffentlicht. Aus der zeitlichen Distanz neu erschlossen, offenbarte das Werk noch einmal seine damalige visionäre Kraft. Rapper «3D» Del Naja und der ebenfalls aus dem Bristoler Dunstkreis stammende Tricky definierten den spezifischen UK-Hip-Hop, bahnbrechend waren zudem die Samples, die die DJs Marshall und Vowles dem Jazz und Soul entnahmen.
Mehr noch als «Unfinished Sympathy», die eigentliche Hitsingle der Platte, lancierte der Opener «Safe From Harm» jene genuine beklemmend entrückte Stimmung zwischen vibrierendem Beat, sphärischem Soulgesang und raunendem Rap.
Später, mit den Album «Protection» und vor allem dem kolossalen «Mezzanine» wuchsen Massive Attack zu Musik-Giganten der 1990er. Das von ihnen begründete Genre fand selbst in der Schweiz seine Epigonen (remember Lunik?), bis Trip-Hop schliesslich zur Gebrauchsmusik für Modeschauen und Kaffeehäuser gerann.
Klackender Beat, klaustrophobische Enge
Ein ähnliches Schicksal hat noch jedes neue Genre befallen, das sich aus der Nische zum Trend erhob, unberührt davon bleibt jedoch die Mischung aus Sound und Stimmung, aus klackendem Beat und klaustrophobischer Enge, die «Blue Lines» zeichnete. «Excommunicated from the brotherhood of man / To wander lonely as a puzzled anagram» meditiert 3D sinnbildlich im Titeltrack. Wer mitwandern will: am 22. Juli treten die Bristoler am Stimmen-Festival in Lörrach auf.
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Massive Attack live: 22. Juli, Marktplatz, Lörrach