Kunsthandwerk Anime

Von wegen Japankitsch: Das Cartoonmuseum wirft einen Blick hinter die technoiden Kulissen von Anime und zeigt eindrückliches Kunsthandwerk.

Aus Zeichnung wird Film: Hinter Anime steckt viel Handarbeit. (Takashi Watabe, Bild aus «Evangelion 2.0: You Can (Not) Advance»)

Von wegen Japankitsch: Filme wie «Patlabor: The Movie» oder «Ghost in the Shell» sind Zeichentrickfilm auf hohem Niveau. Das Cartoonmuseum wirft einen Blick hinter die technoiden Kulissen und zeigt eindrückliches Kunsthandwerk.

Schon seit über 20 Jahren sind japanische Zeichentrickfilme, genannt Anime, bei uns in den Flimmerkisten vertreten. Bereits in den 80ern hüpfte eine japanische «Heidi» mit Kulleraugen und Kurzhaarschnitt über die Bildschirme, gefolgt von übersetzten Serien: «Kickers», «Sailor Moon» und «Pokémon» bescherten so manchen Kindern grosses Fernsehvergnügen.

Für die Älteren war das alles Kinderkram (in Japan dagegen ist Anime schon längst durch alle Alterklassen hindurch beliebt), bis die aufwendigen Animationsfilme kamen. Mit den Produktionen der Ghibli-Studios, wie «Chihiro’s Reise in Zauberland» oder «Prinzessin Mononoke», hatte der Anime-Markt endgültig die europäischen Wohnzimmer erreicht. Schluss mit den generischen Geschichten um Drill-Trainer und kämpfende Kuscheltiere: In den Ghibli-Filmen wurde Anime zum kleinen Kunstwerk, zu poetischen Geschichten, in denen scheinbar jeder Grashalm ein Eigenleben hatte.

Zweiunddreissig Zeichnungen für wenige Sekunden

Um die gleiche Zeit herum kamen die Animes des Science-Fiction Genres auf, die mit düsteren Geschichten und wirklichkeitsnahen Visionen zukünftiger Städte und Landschaften beim Fanpublikum grossen Anklang fanden. Science-Fiction Anime ist hochentwickelter Zeichentrick, hinter den dunklen Szenarien und vertrackten Geschichten stecken riesige Produktionsteams und jahrelange Arbeit. Im Cartoonmuseum ist jetzt zu sehen, welche Produktionsschritte und Entwicklungsstadien durchlaufen werden, um von der Zeichnung zum fertigen Film zu gelangen. Die Ausstellung kreist um Anime-Regisseure und Illustratoren, die in unterschiedlichen Positionen einflussreiche Filme wie «Ghost in the Shell» und «Patlabor: The Movie» schufen und das, was wir heute als «typischer» Anime bezeichnen massgeblich prägten.

Den Anfang macht der Animator und Regisseur Koji Morimoto, der als einer der einzigen Anime-Künstler beinahe die gesamte Produktion seiner Kurz- und Musikfilme selbst übernimmt. Und das ist eine Menge: Ganze zweiunddreissig Zeichnungen legen die Lichtverhältnisse eines knappen Augenblicks des durchgeknallten Musikvideos «EXTRA» (1996)  fest. An den restlichen Wänden hängen etliche Entwürfe zu Charakteren, Hintergründen und Stimmungen.

Der grösste Teil der Arbeit, die hinter Anime steckt, geschieht auf Papier und in der Abteilung des Produktionsdesigns. Der Produktionsdesigner entwirft das Universum, in dem der Film angesiedelt sein soll und erarbeitet verschiedene Kameraperspektiven, die die imaginäre Umgebung visualisieren. In weiteren Schritten setzen Illustratoren und Grafiker die Stimmung des Films fest. Denn trotz futuristischer Settings hat Anime den Anspruch, möglichst realitätsgetreue Welten zu schaffen, mit denen sich der Zuschauer identifizieren kann.

Vom Hongkong der Gegenwart zum Tokio der Zukunft

Bei «Patlabor: The Movie» und den beiden «Ghost in the Shell»-Filmen wurden sogenannte Image Boards angelegt, in denen der Grafiker Hiromasa Ogura Hintergrundentwürfe ausmalte und Farbpaletten zusammenstellte, um die Atmosphäre des Filmes zu definieren. Für das Setting war Takashi Watabe verantwortlich. Der Konzeptdesigner entwarf den Schauplatz der Geschichte, den er mitsamt der in ihrer Welt geltenden Regeln durchdachte und so eine Art realistisches Fundament schuf, auf dem sich die fiktive Geschichte entfalten konnte. So sieht man auf einer seiner Skizzen ausführliche Beschreibungen bezüglich der Entstehung eines humanoiden Roboters. Obwohl dieser Vorgang nur in der Anfangssequenz kurz zu sehen ist, erklärt Watabe anhand von Zeichnungen und kurzen Kommentaren die ganzen Mechanismen dahinter. Ein schon fast obsessiver Aufwand für zehn Sekunden Film.

Eine ebenso eindrückliche Vorbereitungsetappe bilden die Fotos des Konzeptfotografen Haruhiko Higami. Der Japaner war der Location-Scout für «Patlabor: The Movie», der im Vorfeld Stadteindrücke sammelte, die als Vorlage für die Kulisse des Films dienen sollten. Die Suche führte ihn bis nach Hongkong, wo er sich in der damals modernsten Grossstadt im asiatischen Raum ein Bild machte. Die Eindrücke des gegenwärtigen Hongkongs dienten später als Vorlage für das futuristische Tokio.

Gemalt und abgefilmt

Wenn die aufwendige Vorbereitung einmal abgeschlossen ist, werden Einzelbilder (meist Charaktere oder sich bewegende Objekte) auf Folie gemalt und vor einen gezeichneten, mehrlagerigen Hintergrund gelegt. Danach wird das Ganze mit oder ohne Zoom abgefilmt und in einer Zehntelsekunde des Filmes eingesetzt. Und das so lange, bis man einen 80-minütigen Film hat. Pro Film werden Zehntausende dieser Einzelbilder verwendet, bei «Chihiros Reise ins Zauberland» waren es sogar über Hunderttausend.

Zum Schluss der Ausstellung kann man sich im obersten Stock des Museums Ausschnitte des animierten Endprodukt dieser mehrheitlich von Hand geschaffenen Welten anschauen. Und wer nach der geballten Ladung Zeichenkunst und Film noch Energie hat, der setzt sich in die Bibliothek des Museums, wo der Ursprung von Anime in den Büchergestellen liegt: Die meisten der Science-Fiction-Zeichentrickfilme basieren nämlich auf japanischen Comic-Serien.

Trailer zu «Ghost in the Shell» (1995) und «Patlabor: The Movie» (1989):

 

Die Ausstellung «Proto Anime Cut. Zukunftsvisionen im japanischen Animationsfilm» ist von 8.6.2013 bis 13.10.2013 im Cartoonmuseum Basel, St. Alban-Vorstadt 28 zu sehen. Das Rahmenprogramm umfasst unter anderem Führungen und Workshops, wo Roboter zeichnerisch entworfen und animiert werden können.

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