Wie immer musste man lange auf das neue Werk von Renatus Zürcher warten. Nach dem vielbeachteten Film «Der wilde Weisse» (2008) über Paul Wirz zeigt das Kunsthaus Baselland in einer Einzelausstellung Zürchers künstlerische Auseinandersetzung mit dem ungewöhnlichen Menschen Gilbert Clavel und dessen faszinierenden Ideenwelt.
Angefangen hat es mit der Verleihung des Kunstpreises der Alexander Clavel-Stiftung 2001 im Wenkenhof in Riehen. Anlässlich der 1250 Jahre Wenkenhof wurde der Kulturförderpreis der Stiftung Gilbert Clavel (1883-1927) gewidmet und die fünf Preisträger eingeladen, sich in ihrem Schaffen mit dem visionären Werk und Geist von Clavel auseinander zu setzen. Renatus Zürcher war einer der Preisträger und lud weitere Kunstschaffende zu Arbeiten zur Biografie von Gilbert Clavel ein, die er 2001 in «quasi-mezzanotte – ein kleines Nachtprogramm» rauschend inszenierte.
Nun, über zehn Jahre später zeigt Renatus Zürcher im Kunsthaus Baselland, was weiter aus dieser ersten Begegnung mit Gilbert Clavel entstanden ist. Gespräche mit dessen Patenkind Antoinette Frey-Clavel – die heute 94-jährige ist die Letzte der Clavel-Familie – brachten ihm den Menschen Gilbert Clavel näher und von ihr erhielt er ein Exemplar dessen Novelle «Ein Institut für Selbstmord». Ein Reisestipendium der iaab führte Renatus Zürcher nach Positano an die Amalfiküste. Ausgerüstet mit Super 8-Kamera, Fotoapparat und Tonband setzte er sich intensiv künstlerisch mit dem Torre Clavel und dessen Schöpfer Gilbert Clavel auseinander.
Steigt man im Kunsthaus die Treppe zum Untergeschoss hinab, so wird man zunächst von der touristischen Stimmung der Küste empfangen: In «Positano Peak», einem kleinen Video, defilieren endlos grosse Reisecars, die sich in einem eleganten Reigen die enge Kurve im Ortskern von Positano passieren. Gleichzeitg fällt der Blick auf die grosse Fotoinstallation, die einen selbst an die Küste positioniert und den Blick auf die glatte Meeresoberfläche und den Torre Clavel eröffnet.
«Ich versteinere, was mir die Natur an Lebendigstem genommen hat.»
Der Turm ist nur der Fingerzeig. Gilbert Clavel hat in den Jahren um 1915 seine Idee eines Gesamtkunstwerks realisiert und ein Geflecht aus Räumen – Malterahaus, Sirenenzimmer, Diamantzimmer, Lietzhaus –, Korridoren und Schächten in den Fels hinein gehauen und gesprengt, die er mit selbstentworfenen Möbeln und Textilien einrichtet. Unter dem Turm entdeckt er eine Grotte mit direktem Zugang zum Meer, deren Grundrissform er als Hoden plant, worin – wie er schreibt – «ich versteinere, was mir die Natur an Lebendigstem genommen hat». Mit Wünschelrute und Kompass ausgerüstet legt er so ein System von über 100 m Länge auf vier Etagen an, das er gegen Stürme und Rutschungen immer wieder verteidigen muss.
So eingestimmt kommt man zum Herzstück der Ausstellung, der Videoinstallation «Ein Institut für Selbstmord», 2012, welche auf Clavels gleichnamige Novelle referiert. Der Film geht so lange, wie das Vorlesen des Textes dauert. Auf der Bildebene betritt Renatus Zürcher selbst die Grotte unter dem Turm und beginnt uns vorzulesen. Nur ein Bild pro Sekunde wird gezeigt und die Szene in der Grotte rückwärts abgespielt, weiteres Bildmaterial eingeflochten, überblendet, rückgekoppelt. Die Bilderfolge oszilliert zwischen Fassbarem und Abstraktem, zwischen Stimmungsbildern und Konstruktionen. Aus dem Off ertönt die Stimme des Vorlesenden, sie trägt uns weiter und erzählt Skurril-fantastisches der Erlebnisse des Ich-Erzählers in besagtem Institut.
In drei verschiedenen Rauschzuständen – Trunkenheit, Wollust oder mit Hilfe des Rauschmittels Pantopon – kann ins Jenseits gewechselt werden, als vierte Methode wird auch die Vereinigung dieser drei Arten in Betracht gezogen. Was wie gründliche Selbstvernichtung klingt, wird von Clavel jedoch als «Veränderung des Zentrums» angesehen. Der Tod wird zum Übergang im unendlichen Hin und Her und «und das Auge öffnete sich wieder zu einem Zwinkern, wurde grösser und grösser, schimmerte wie ein Regenbogen, und floss zuletzt in den Achterstrom.»
Leben und Tod
«Achterstrom» als Titel der Ausstellung bringt als Bild alle Bewegungen und Medien, Zeiten und Ausdrucksmöglichkeiten in Verbindung, verbindet Extreme und lässt Gegensätze ineinander fliessen. Wenn man bei Gilbert Clavels Torre von Gesamtkunstwerk spricht, so sollte auch der Mensch Clavel mit seiner Überzeugungswelt eingeschlossen werden. Er wurde als «Leidender und Lebemensch» beschrieben, als einer, der Gegensätze in sich vereint, so wie er mit Wünschelrute und Sprengstoff sein Werk schuf, wie er als körperlich Leidender gefangen ein visionäres energiegeladenes freies selbstbestimmtes Leben führt, so wie er die Gegensätze von Leben und Tod aufhebt. Das Symbol der liegenden Acht, dem Zeichen für das Unendliche, das ist seinem Lauf immer wieder an Extreme stösst, umkehrt und überkreuzend zum gegenüberliegenden Extrem fliesst um in nicht abbrechender Wiederholung wiederum zurück zu fliessen.
In der Videoarbeit «3 Vievvs» setzt auch Renatus Zürcher das Leben dem Tod entgegen. In den drei installierten Arbeiten wird der Lauf des Lebens aus drei verschiedenen Perspektiven gesehen: aus dem sitzenden Beobachten, aus der sich gehend weiterbewegenden Sicht aus dem Korb einer Früchteverkäuferin heraus und aus dem fahrenden Taxi. In diesen Sichten, in Hanoi gefilmt, wird auch das Interesse von Renatus Zürcher an den Menschen im Fluss des alltäglichen Lebens sichtbar. Dies auch im Gegensatz zu den Arbeiten Zürchers, die den Einzelnen und Aussergewöhnlichen ins Zentrum stellen – am andern Ende des Achterstroms sozusagen.
Zur Ausstellung ist eine Art Künstlerbuch erschienen, sehr schön gestaltet, mit inspirierendem Inhalt und Raum für eigene Gedanken: «Gilbert Clavel», Herausgeber: Renatus Zürcher, Simon Bauer, Ruedi Ankli, stalker editions, 2013. U.a. ist der Text von Harald Szeemann zu Gilbert Clavel enthalten. Ein Materialband soll bald folgen.