Thom Luz erzählt Goethes «Werther» auf der Kleinen Bühne von hinten nach vorne und dringt dabei auf höchst originelle und einleuchtende Weise ganz tief in die leidenschaftlichen Gründe ein, die sich im berühmten Briefroman zu den folgenschwerer Leiden entwickeln.
Was sind Worte denn? Letztlich nur Schall und Rauch. Was sind Gedanken? Wolkengebilde. Und wie viele verschiedene Arten gibt es, auf der Bühne Rauch- und Nebelschwaden zu erzeugen? Sehr sehr viele. Das geht auch ohne High Tech, zum Beispiel mit rauchgefüllten grossen Plastiksäcken, die man platzen lässt, die man aufschlitzt oder auch nur fein ansticht. Oder mit einer grossen Holztonne, die Rauchringe auspustet. Auf der Kleinen Bühne bekommen wir geschätzte dreissig verschiedene Arten mit. Alle eben ohne ausgefeilte Elektronik, dafür mit viel Fantasie zelebriert.
* i am a story backwards told Schauspiel nach Johann Wolfgang von Goethe Regie und Bühne: Thom Luz, Kostüme und Licht: Tina Bleuler, Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Dramaturgie: Martin Wigger Mit: Joanna Kapsch, Catrin Störmer, Vera von Gunten, Ulla von Frankenberg (Souffleuse mit Spieleinsätzen) sowie Martin Bliggenstorfer und Mathias Weibel (Musik) Weitere Vorstellungen: 03., 14., 23., 28. Dezember 2012, 02., 23.01.2013 auf der Kleinen Bühne
Low Tech ist auch beim Musikinstrumentarium das Prinzip – und Musik spielt bei der Aufführung auf der Kleinen Bühne des Theater Basel eine ausgesprochen wichtige Rolle: Zwei Klaviere, eine Glasharmonika, zwei Tasten-Glockenspiele, ein altertümliches Harmonium, ein Wurlitzer-E-Piano, eine Trichter-Geige, eine Axt und ein Schächtelchen Maizena, dem sich knirschende Geräusche entlocken lässt, wenn man es drückt. Dazu kommt nicht zuletzt ein Oboist, der auf der Seitenbühne platziert ist, den man aber über einen grossen Spiegel sehen kann. Dies alles ist eine wunderliche Szenerie für eine wunderbare Aufführung.
Zu erleben ist über «91 Minuten und 25 Sekunden (keine Pause)», so die etwas gar exakten Angaben im Programmheft, eine Bühnenversion von Goethes «Die Leiden des jungen Werther», den berühmten Briefroman über eine unerfüllte Liebe, die in den Freitod der Titelfigur führt. Werther selbst ist in der langen Besetzungsliste im Programmheft übrigens nicht zu finden. Ihn bekommt man auf der Bühne denn auch nur als zitierten Briefeschreiber mit. Auch die meisten der anderen aufgeführten Figuren tauchen nicht auf. Eigentlich ist nur Lotte da, Werthers innigst Geliebte, die aber einem anderen gehört, weshalb der Ausweg aus dem, was nicht sein darf, eben in den Tod führen muss. Diese Lotte gibt es dafür gleich in einer dreifachen Version: einer leidenschaftlichen, beinahe lasziven, einer standfest-kraftvollen und einer korrekt-gradlinigen. Diese dreigeteilte Lotte ist mit Vera von Gunten, Catrin Störmer und Joanna Kapsch hervorragend besetzt. Glücklich ein Theater, das über ein solches Personal verfügt (womit hier gleich protokolliert sein soll, dass auch der spielende Musiker Mathias Weibel und sein Kollege auf der Seitenbühne, Martin Bliggenstorfer, bemerkenswert agieren).
Vom Ende zum Anfang
Regisseur Thom Luz (neben seiner Arbeit am Theater ist er auch als Sänger und Gitarrist der Indie-Band «My Heart belongs to Cecilia Winter» tätig) versucht also gar nicht, die Leiden des jungen Werther auf der Bühne nachspielen zu lassen. Vielmehr bekommen wir eine Art Etüde oder einen musikalisch-dramatischen Exkurs über die Wurzeln überschäumender Liebe, Leidenschaft und Leiden zu erleben. Folgerichtig wird die Geschichte vom Ende her zeitlich zurück erzählt – «I am a story backwards told», heisst es entsprechend im Untertitel. Inhaltliche Überraschungsmomente fallen dabei keine zum Opfer, denn wenn man etwas über Werther von vornherein mit Sicherheit weiss, dann ist es der Selbstmord am Schluss. Und überhaupt ist doch wohl jedem und jeder klar, dass grosse Liebe in grossen Erzählungen immer tödlich ist (und nicht nur dort, wie in einem höchst originellen Text von Carl Hegemann im Programmheft ausführlich dargelegt wird).
Das Ganze beginnt, nachdem sich die Figuren auf der Bühne erst wie Orchestermusiker auf dem Podium oder im Graben eingespielt haben, also mit den Schlussbemerkungen aus dem Roman: «Ein Nachbar hörte den Schuss fallen; da aber alles stille blieb, achtete er nicht weiter drauf.» Joanna Kapsch, sie trägt wie alle anderen Figuren einen eleganten schwarzen Overall (Kostüme: Tina Bleuler) spricht diese ersten bzw. letzten Sätze gänzlich emotionslos ins Mikrofon an der Rampe, als wäre sie eine rapportierende Gerichtsmedizinerin. Ganz anders wird ihr Ton dann aber, wenn es einen Schritt zurück zum Abschiedsbrief geht. Jetzt werden die Worte gefühlsvoll, beinahe schon lasziv ins Mikrofon gehaucht. Und noch weiter zurück im Handlungsverlauf wechselt der Tonfall wiederum deutlich, dann wird er atemlos und hektisch.
Einnehmende Musik
In fliegendem Wechsel folgt eine Lotte auf die andere. Catrin Störmer und Vera von Gunten wechseln einander ab als glaubwürdige Verkörperung der inneren Zerrissenheit oder als personifizierte Verzückung über die erste Begegnung Werthers mit Lotte: Immer weiter geht es zurück in der Geschichte, von Werthers Verzweiflung über die unerfüllte Liebe zum Moment, als Werther seine bzw. eben nicht seine Lotte zum ersten Mal erblickt und die Leidenschaft noch nicht ganz zum Leiden herangewachsen ist. Manchmal sind zwei der Frauen gleichzeitig oder gleich alle drei am Reden, stets bemerkenswert präsent und getragen und voran- bzw. in der Handlung zurückgetrieben von der einnehmenden und höchst stimmungsvollen Musik, die sich in ihrer minimalistischen Eingängigkeit an Eric Satie anlehnt. Faszinierend ist es zu erleben, mit welcher Leichtigkeit und zugleich Ernsthaftigkeit die oftmals überschwänglichen Gefühlswelten dargebracht werden – eine Ernsthaftigkeit, die dann und wann auch wohltuend ironisch gebrochen wird, etwa, wenn eine Ganze Reihe von Ich-Sätzen aneinandergereiht werden. Und von denen gibt es in Werther viele; 197 Sätze sollen sein, die mit «Ich» beginnen, ist im Programmheft zu lesen.
«Die Leiden des jungen Werther» ist grosses, originell-unterhaltsamens, berührendes und zugleich kluges Theater auf der Kleinen Bühne, mit herausragenden Schauspielerinnen und Musikern und zusammengehalten von einem Regisseur, der ein sicheres Gefühl für den richtigen Rythmus und einnehmend-skurrilen Bildwelten an den Tag legt. Es ist kein eigentliches Musiktheater, aber ein Theater, das sehr viel Musikalität besitzt. Schritt für Schritt führt das Ganze zurück zum Anfang der Geschichte, zum ersten Satz im Roman: «Wie froh bin ich, dass ich weg bin». Wie froh waren die Zuschauerinnen und Zuschauer nach den anderthalb Stunden, dass sie beim Verlassen des Theaters diesen Satz ganz sicher nicht als ihren eigenen nachzusprechen versucht waren.