In seinem neuen Film «Shame» widmet sich Regisseur Steve McQueen einem Sexbesessenen.
Als Ingmar Bergman 1953 in «Schweigen» den Nippel einer weiblichen Brust belichten liess, überschritt er die damalige Grenze zur Pornografie und provozierte heftige Debatten. Marcel Reich-Ranicki tobte, nun könnten «Spiesser und Heuchler beruhigt einen feuchten weiblichen Busen» betrachten und «sich aufgeilen, denn man hat ihnen ja erklärt, es ginge um Gott».
Als Harry 1989 Sally traf, durfte sie uns lauthals einen Orgasmus vorsingen, ohne sich auf Gott zu beziehen. Mit «Sex and the City» war 1998 der Weg für Frauen frei, Sexualität als Mittel zum Zweck zu praktizieren. Sex sells. Schliesst «Shame» daran an ?
Warentausch im Nahverkehr
Die Hauptfigur, Brandon, ist ein Dauerbrenner, «oversexed and underfucked». So liesse sich Steve McQueens neuer Film «Shame» plakatieren. Als Ariadne von Schirach in ihrem «Tanz um die Lust» die Beziehungs-Welt als «oversexed and underfucked» beschrieb, winkten die meisten Singles wissend ab. Bloss: Wie übersetzt man «übersext und unterfickt» eigentlich?
Michel Houellebecq gibt uns dazu im Skandalroman «Ausweitung der Kampfzone» Hinweise. Demnach wird der Geschlechtsverkehr zunehmend den Gesetzen des Warenverkehrs unterworfen: Ein Gut verwandelt sich in Güter. Der Warenverkehr ersetzt die eigentliche Triebkraft der Sexualität – Fortpflanzung, Erotik, Nähe – durch die Gesetze des Warentausches. Emotionale Nähe findet bloss noch als Nahverkehr statt: in überfüllten Köpfen.
Bilder im Kopf
Für Brandon heisst das: «Wir ficken, wie wir shoppen» – exklusiv, kurzlebig, auf Kredit. Die Jagd nach dem Schnittchen ersetzt die Jagd nach dem Schnäppchen. Steve McQueen führt uns in diese Kampfzone, genau dorthin in unseren Köpfen, wo kraftvolle Bilder wachmachen.
Auch bringt er das mit, was unsere Bedürfnisse wirklich befriedigen könnte: einen Menschen, der nach Nähe sucht. Es ist Brandons Schwester. Sie tritt wie ein sündiger Engel in dieses Leben. Michael Fassbenders Brandon kann mit Nähe nicht umgehen. Er erfährt dieses Manko aber erst in der für ihn sexfreien Zone, mit seiner Schwester Sissy (Carey Mulligan). «Shame» schaut weit über «Sex sells» hinaus, dringt tiefer in die Einsamkeit des Sexsüchtigen ein. Ein PR-Stratege erklärte mir kürzlich den neuesten Werbetrend: «Sex sells» sei nicht mehr hip. Verzicht auf Sex sei jetzt angesagt. Das sei bei Weitem sexyer!
- Der Film «Shame» läuft ab 22. März, 16. 30 & 21. 00 Uhr im kult.kino Atelier
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.03.12