Lichtspiele: Rausch der Lücke

Joachim Trier verhandelt in «Oslo, August 31» das norwegische Trauma, ohne es zu erwähnen.

Wegschauen gilt nicht: Anders (Anders Danielsen Lie) in den Strassen Oslos. (Bild: Foto: zVg/Look Now!)

Joachim Trier verhandelt in «Oslo, August 31» das norwegische Trauma, ohne es zu erwähnen.

Wenn in einem Film eine Waffe auf den Kopf eines Mädchens gerichtet wird, schauen Sie weg? Es fliesst ja nur Kunstblut. Streng genommen fliesst im Kinosaal nicht einmal Kunstblut. Es sind rote Lichtpunkte auf der Leinwand, die in Ihrem Kopf das Bild, das Sie nicht sehen wollen, entstehen lassen.

Es genügt eigentlich auch, dass Sie das hier lesen: Im Kino wird wie hier immer etwas weggelassen, was die grausige Tat ausmacht: Mensch, Blut, Gefühl, Schmerz, Sinn. Darin wohnt der schmerzhafte Sinn von Kunst. Sie erlaubt uns, in der Fiktion zu verstehen, was wir in der Realität nicht erleben wollen. Wir haben die Wahl: hinzuschauen oder nicht hinzuschauen.

Kino im Kopf

Wenn Anders B. vor Gericht seine Tat schildert, spielt sich in unseren Köpfen nicht nur die entsetzliche Tat ab: Die Begründung ist noch entsetzlicher. Die Reuelosigkeit, mit der sie vorgebracht wird, ist noch entsetzlicher, aber das ist bei Weitem nicht das Entsetzlichste: Das ist wirklich wirklich! Wegschauen geht nicht! Machen wir uns nichts vor: Würde Anders B. seine grausame Tat verfilmen dürfen, der Film wäre ein Kassenschlager.

Die Produzenten würden das Drehbuch nur leicht umschreiben müssen: Kurz vor Schluss des Breivik-Streifens könnte die verzweifelte Mutter des Täters eine Waffe in die Zelle ihres Sohnes schmuggeln und würde den Massenmörder – im Laufe einer heftigen Auseinandersetzung, während der der grausame junge Mann ihr mit tränenerstickter Stimme vorwerfen würde, sie habe ihn im Stich gelassen – abschlachten.

Der andere Anders

Umso besser, dass in «Oslo, August 31» das, was in unseren Köpfen mit Oslo verbunden ist, nicht thematisiert wird: «Oslo, August 31» sucht im Abseits der Grossstadt. Wir folgen Anders, der auch hier – wohl nicht zufällig – so heisst. Er ist auf Drogenentzug. Er zieht, ein paar Wochen nach der entsetzlichen Tat des anderen Anders, durch die Stadt Oslo, trifft seine Altersgruppe, seinen Lebensstil, die damit verbundenen Nettigkeiten, die uns mehr langweilen als anziehen, die fast jede Grosstadt so unheimlich unheimisch machen.

In «Oslo, August 31» ist der grausame Anders B. nicht existent. Der Film über unseren Anders endet, indem er die letzte Konsequenz aus seinem gescheiterten Lebensrausch zieht: Er tut, was der Vater von Anders B. sich für seinen Sohn, den Massenmörder, auch wünscht. Spätestens da haben wir begriffen, dass es auch in der Kunst nicht immer ein Wegschauen gibt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.04.12

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