Verdiente Goldene Palme in Cannes für Michael Hanekes «Amour». Doch bei den weiteren Auszeichnungen griff die Jury meist daneben. Ihr entging manch andere Perle.
Die Liebe hat ihre eigenen Gesetze, davon handelt Michel Hanekes großes Sterbedrama «Amour». Und auch Jury-Entscheidungen nehmen für sich ein Zwischenreich aus Herz und Verstand in Anspruch. So werden sie selten allen gerecht, doch diesmal ist es anders. Man kann beim besten Willen nichts finden, das gegen die Goldene Palme für ein Drama gesprochen hätte, das in der Beschränkung auf zwei Personen und einen Schauplatz zu solcher Größe findet. Und das uns ebenso sehr emotional berührt wie wir die Kunstfertigkeit daran bewundern.
Auch das Argument, der Österreicher Michael Haneke sei doch vor drei Jahren schon mit dem begehrtesten Filmkunstpreis der Welt nach Haus gefahren, gilt hier nicht: Kein Film hat bei diesem durchwachsenen Festival so ungeteilten Zuspruch gefunden wie dieses Alterswerk über das Altwerden. Bei aller Stille geht ein lauter Schrei von den intimen Bildern aus. Ein Aufbegehren gegen jenen schleichenden Verlust an Menschenwürde, den unsere Gesellschaft den Sterbenden noch abverlangt als sei der Tod allein nicht schlimm genug.
Keine Amerikaner
Nanni Moretti machte bei der anschließenden Pressekonferenz kein Geheimnis daraus, dass er dem greisen Hauptdarstellerpaar Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant den Darstellerpreis auch noch gern zugesprochen hätte. Die Regularien indes verbieten weitere Ehren für den Hauptgewinner. Erlaubt allerdings ist die Kombination des Drehbuch- und Darstellerinnenpreises für «Beyond the Hills», den Kloster- und Exorzismusfilm des Rumänen Christian Mungiu. Das ist dann doch etwas zuviel der Ehre für einen Film, der das Erfolgsrezept von Mungius Cannes-Gewinner «Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage» und vieler anderer Werke aus seinem Umkreis eher enttäuschend reproduziert: Zwar taucht man noch immer gerne ein in dieses diskursive, dialogbetonte Kino – doch der höhere Erkenntnisgewinn bleibt diesmal aus.
Wie schade etwa für Nicole Kidman, die am vorletzten Wettbewerbstag wieder einmal mit ihrem körperlichen Spiel verblüffte: Im Südstaaten-Thriller «The Paperboy» entflammt sie als Ehefrau eines Todeskandidaten nicht nur den Reporter, der sich für dessen Freilassung einsetzt. Der in einer Sumpflandschaft angesiedelte Thriller bringt mit seiner unterdrückten Erotik förmlich die Luft zum Klirren. Aber die Kunst darin mag man vielleicht leicht übersehen – wie es die Jury mit allen amerikanischen Bewerbern tat.
Dabei war erst am letzten Tag noch ein bewundernswert gearbeitetes amerikanisches Jugendrama aus dem Hut gezaubert worden: In «Mud» erzählt Jeff Nichols so leidenschaftlich von der Bewunderung zweier Jungen für einen flüchtigen Kriminellen, dem sie helfen, ein Boot zu bauen, als hätte ihm Mark Twain persönlich dabei über die Schulter geschaut.
Frechheit siegt nicht
Dafür besitzt Jurypräsident Nanni Moretti die Gabe, Kunst wiederum dort zu entdecken, wo überhaupt keine versteckt ist: Den große Jurypreis für Matteo Garrones Mediensatire «Reality» kann man höchstens als noble Geste gegenüber einem Landsmann erklären, der sich in Morettis eigenem Terrain versucht – wenn auch reichlich glücklos. Als dann aber auch noch Ken Loach mit «The Angel’s Share» für ein absolutes Nebenwerk einen Jurypreis bekam, war klar, das für den frechsten Filmkünstler dieses Jahrgangs nichts übrig bleiben konnte. Selbst auf Nachfrage wollte Moretti das Übergehen das Franzosen Leos Carax und seines von vielen Kritikern leidenschaftlich gefeierten Comeback-Films «Holy Motors» nicht weiter kommentieren. Auch andere hätten schließlich nichts bekommen.
Ein weiterer Preis allerdings, vergeben von einer anderen Jury, weckt dafür einmütige Bewunderung: Als bestes Debüt wurde «Beasts of the Southern Wild» aus den USA mit der Camera d’Or ausgezeichnet: Benh Zeitlins Endzeit-Drama aus der Sicht eines fünfjährigen Mädchens erneuert ein überstrapaziertes Genre aus dem Geist des unabhängigen Films: Es ist Kinopoesie ohne Spezialeffekte – aber dafür auf Augenhöhe mit dem, was man früher die menschlichen Befindlichkeit genannt hätte.
Ausser Konkurrenz
Was hatte Festivaldirektor Thierry Frémaux nur bewogen, diesen Film wie so viele andere hochkarätige Beiträge außerhalb der Wettbewerbssektion zu platzieren? Wie viel besser wäre dieser Jahrgang angekommen.
Einen der erfrischendsten und schönsten Filme versteckte er sogar bis zum allerletzten Augenblick: «Final Cut – Ladies and Gentleman» des Ungarn Györgi Pálfi verschneidet nicht weniger als 500 Filme zu einem neuen. Es ist ein atemberaubenden Found-Footage-Film, in seiner Qualität durchaus ebenbürtig dem letztjährigen Preisträger der Kunstbiennale von Venedig, «The Clock» von Christian Marclay.
Pálfi gelingt das Kunststück, einen klassischen Liebesfilm mit mehr als Tausend Darstellern zu erzählen, in dem er verwandte Szenen aus der Filmgeschichte aneinander schneidet: Ein Mann steht auf, rasiert sich, trifft eine Frau ,verliebt sich, man verliert sich wieder und findet sich erneuet. Es gibt Streit und Versöhnung, großartigen Sex, Schwangerschaft und Missverständnisse, eine Flucht in die Armee, Todesnähe und die Auferstehung der alten Liebe. Drei Jahre arbeite der Regisseur mit vier Cutterinnen an diesem beglückenden Kinoerlebnis, das weit mehr ist als eine Kompilation der ewigen Vorlieben des Mediums. Es ist auch ein Exkurs über dessen geheimstes Wunder, die Montage, die uns Zusammenhänge auch dort entdecken lässt, wo eigentlich gar keine sind. Man war bezaubert; nur strenge Urheberrechts-Anwälte könnten etwas Böses dabei denken. Aber so ist das nun einmal mit der (Kino)-Liebe: Sie folgt ihrem eigenen Gesetz.