Linksaussen nichts Neues – das Genie George Best im Auge des Betrachters

Sechs Kameras, 90 Minuten, ein Spieler. Hellmuth Costards Film über den irischen Ausnahmekönner George Best ist ein misslungener Versuch, das Genie im Sportler zu dekodieren. Aber das ist nicht schlimm, der Film erzählt trotzdem alles, was es über Fussball zu sagen gibt.

Aug. 3, 1969 photo of Manchester United and Northern Ireland soccer legend George Best. Best, the dazzling soccer icon of the 1960s and 70s who reveled in a hard-drinking playboy lifestyle, died Friday Nov. 25, 2005 after decades of alcohol abuse, hospital officials said. He was 59. (AP Photo) ** UNITED KINGDOM OUT NO ARCHIVE **

(Bild: AP Photo)

Sechs Kameras, 90 Minuten, ein Spieler. Hellmuth Costards Film über den irischen Ausnahmekönner George Best ist ein misslungener Versuch, das Genie im Sportler zu dekodieren. Aber das ist nicht schlimm, der Film erzählt trotzdem alles, was es über Fussball zu sagen gibt.

Im September 1970 wagte der deutsche Regisseur Hellmuth Costard ein aussergewöhnliches Experiment. Zusammen mit fünf anderen Kameraleuten stellte er sich an den Spielfeldrand beim englischen Kult-Verein Manchester United und fokussierte auf: George Best – den linken Flügelstürmer der roten Teufel, der zwei Jahre zuvor zu Europas Spieler des Jahres gewählt worden war.

Mit sechs 16mm-Kameras verfolgten die Kameraleute während 90 Minuten (plus Aufwärmephase) diesen einen Spieler. Keine Ballverfolgung, kein Schnickschnack. Nur Best. Sonst nichts. Fussballübertragung wie noch nie.

Der Film wurde ein kommerzielles Desaster. Einen «Scheissfilm» nannte ihn die «Berliner Morgenpost» wenig taktvoll, die Fernsehzeitschrift «Hörzu» empfahl Costard, das nächste Mal den rechten Torpfosten zu filmen. Das sei ähnlich spannend. Die harsche Kritik mochte die künstlerische Ehre des Regisseurs getroffen haben, der Flop an den Kassen erstaunte ihn aber nicht. Costard war Idealist, er wollte sich nicht dem kommerziellen Diktat unterwerfen und verfolgte radikale Ideen. «Fussball wie noch nie», wie der Film betitelt wurde, war eine sehr radikale Idee.

Hellmuth Costard und einer seiner Kameramänner in Aktion. (Bild: © STUDIOCANAL Home Entertainment Germany)

Wie so viele verkannte Genies kann man auch Hellmuth Costard rückblickend als Visionär bezeichnen. Sein Film war ein anthropologisches Experiment, eine künstlerische Suche nach einem Phänomen, das die Massen in ihren Bann zieht: dem Genius. George Best galt als Ausnahmekönner auf dem Feld, aber er sorgte auch abseits des Platzes für reichlich Furore. Er soff, knutschte, feierte und fuhr schnelle Autos. Er war Gottes Geschenk an die Klatschpresse, die ihrem Publikum Anekdoten wie diese bescherte:

Best lag nach einer durchzechten Nacht im Bett, als das Telefon klingelte: «Good morning George», sagte der Anrufer «I’m from ‹The Sun›». George darauf: «And I’m from earth, now fuck off!»

Enfant Terrible

George Best war das, was man gemeinhin ein «Enfant terrible» nennt. Aber er konnte eben auch verdammt gut Fussball spielen und das weckte das Interesse Costards. Was war es, das diesen Athleten vom durchschnittlichen Spieler abhob? Worin bestand sein schier unerschöpfliches Talent? Costards Film kann als Versuch gesehen werden, dem Genie George Bests nachzuspüren und es, wenn es aufblitzte, festzuhalten. In sechsfacher Perspektive.

Dieses Vorhaben, und hierin liegt sein visionäres Gehalt, nahm das heute weitverbreitete Verlangen vorweg, das Genialische der Weltstars zu dechiffrieren. Auch 1970 standen besonders gute Fussballer im Fokus der Presse, aber die Mittel, um «gute» Spieler objektiv von «Top-Top-Top»-Spielern (so Genietrainer Pep Guardiola) zu unterscheiden und diese Attribute in Zahlen auszudrücken, waren nicht gegeben.

Das Genie im 21. Jahrhundert: Der Cyborg

Sind sie es denn heute? Die Homepages der Weltstars und die Werbekanäle der grossen Sportmarken suggerieren diese Messbarkeit durch die Ver-Technisierung von Sportlern und ihrem Material. So gleichen die Werbespots für Fussballschuhe nicht selten einem visuellen Ausflug ins Technorama. Chiffren geben Aufschluss über Evolutionsstufen – F30, F40, F50 –, Ziffern, Codes und abstrakte Materialangaben sollen die Leistungsfähigkeit der Treter beweisen und ihre potenziellen Träger damit von der Couch direkt in die Königsklasse katapultieren.

Und auch Fussballer werden in Raster gepresst, wie ein entsprechender Dokumentarfilm mit Cristiano Ronaldo eindrücklich beweist. Um die unglaubliche Leistungskraft dieses Fussballers endlich in Zahlen fassen zu können, wird der Mensch Ronaldo regelrecht zum Cyborg. Mit Chips und Reflektoren ausgestattet, jagt der auch noch gut aussehende Athlet durch eine hochtechnisierte Versuchsanlage, in der an verschiedenen Posten seine Körperkraft, seine mentale Stärke, Technik und Geschicklichkeit, kurz, sein Leistungspotenzial als Fussballer gemessen werden soll.

Ronaldo, das durchleuchtete Genie also; soweit war man 1970 noch nicht. Noch nicht ganz, denn um dem Genie auf die Schliche zu kommen, musste man es ganze 90 Minuten lang beschatten. Costard und seine Kameramänner belichteten satte 540 Minuten Filmmaterial, um hernach feststellen zu können: Das Genie in Aktion, es ist vor allem eines, nämlich einsam.

Der Film entlarvt auf eindrückliche Weise die schizophrene Erwartungshaltung des Fussballpublikums, zwar das Team gewinnen, aber Stars brillieren zu sehen. Umgekehrt gibt er denjenigen Spielern recht, die nach Spielschluss die Journalisten mit ihren Worthülsen langweilen. Anstatt sich nach dem lupenreinen Hattrick wenigstens ein bisschen der Selbstbeweihräucherung hinzugeben, danken sie dem Team, ohne das dieser Sieg niemals zustande gekommen wäre. «Danke, ich muss jetzt duschen.» Gähn.

Best: Die fussballerische Adaption eines Filmtitels

Aber wer den Starfussballer Best während 90 Minuten in der Totale beobachtet, der kommt nicht umhin, den Stargedanken zünftig zu hinterfragen. Gefühlte 85 Prozent der Spielzeit sehen wir einen überdurchschnittlich behaarten, schlaksigen Mann mit leicht hochgezogenen Schultern scheinbar orientierungslos umherirren. Ein paar Schritte hierhin, ein paar Schleicher dahin. Die Geräuschkulisse der in regelmässigen Wallungen aufschreienden Fans suggeriert Action, Spannung, Fussballspektakel. Das Genie kratzt sich derweil am Gesäss und wirkt wie die fussballerische Adaption eines Filmtitels: Linksaussen nichts Neues.

(Bild: © STUDIOCANAL Home Entertainment Germany)

Ja, ein Spieler kann auch ohne grossen Bewegungsradius brillieren (siehe Messi). Ja, der Wert eines Fussballers lässt sich nicht in Ballkontakten bemessen. Ja, einen Spieler aus dem Kontext der Teamformation zu isolieren, manipuliert die Spielidee. Und ja, auch ein Top-Spieler hat mal einen miesen Tag.

Natürlich hält die Ratio unzählige Argumente bereit, warum mit Costards filmischer Methode kein Genie zu entdecken ist. Aber gerade weil aus dieser Perspektive der Star zum Mitläufer schrumpft, ist dieser Film so wertvoll für unser Verständnis des Fussballs. Er erinnert uns 90 meditative Minuten lang daran, dass es eben doch nicht Einzelne sind, die dieses Spiel prägen. Und wenn sich Hattrick-Torschützen bei ihren Kameraden bedanken, dann tun sie dies auch in Gedanken an die öden 85 Minuten, in denen das Spiel komplett an ihnen vorbeilief und sie nichts dazu beitragen konnten.

George Best, einzigartig durchschnittlich. Indem er das Pulikum minutenlang einfach anschaut, streift er den Mythos des unnahbaren Superstars ab.  (Bild: © STUDIOCANAL Home Entertainment Germany)

Eine Szene dieses Films fällt aus dem Rahmen. Sie zeigt Best in der Halbzeitpause und wurde erst im Nachgang abgedreht. Die Kamera begleitet Best in die Katakomben, dort bleibt er stehen und schaut zurück, dem Publikum direkt in die Augen sozusagen. Während dieser zwei, drei Minuten wird klar: Costard will uns keinen Star präsentieren, es geht hier nicht um das Genie. Es geht um die einzigartige Durchschnittlichkeit dieses Typen mit den braunen Augen, den schwarzen Haaren, der Zahnlücke und dem Grübchen im Kinn.

Sieben Minuten nach Beginn der zweiten Halbzeit schiesst Best das 1:0 für Manchester United. Ballannahme mit dem Knie, den Torhüter lässt er mit einem Haken lässig aussteigen. Das Publikum tobt, genial!

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Der Film «Fussball wie noch nie» wird im Rahmen des Fussballfimfestivals «Flutlicht» am Samstag, 16. Januar, um 12:15 Uhr im Gare du Nord gezeigt. | Eine Vorschau auf das Festival finden Sie >>> hier.

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