Der fünfte Roman des Schweizer Autors ist typisch Stamm: karge Worte, grosses Kopfkino. Dieses Mal funktioniert das Erfolgsrezept leider nicht mehr ganz so gut.
Auf der ersten Seite seines neuen Romans wirft uns Peter Stamm als Erstes gleich einen lyrischen Klumpen in den Weg: «Nacht ist der Tag, der mir dein Bild entzieht, Und Tag die Nacht, die dich im Traume sieht», steht da als Einleitung und lässt uns rätseln. Ist nun die Nacht der Tag oder der Tag die Nacht? Wir bleiben hängen und der Schweizer Autor ist sofort genau bei dem, was er am besten kann: den Leser auf Reisen schicken.
Die Reise fängt bei diesen zwei letzten Zeilen eines Shakespeare-Sonnets an, die anfangs einfach nur grausam unverständlich scheinen. Stamm-Kenner wissen aber: Hier geht es um ein Bild, das in keinster Weise schon zu Beginn scharf gezeichnet werden soll und sich im Verlauf von «Nacht ist der Tag» langsam herauskristallisieren wird.
Peter Stamm: «Nacht ist der Tag», S.Fischer Verlag 2013. 256 Seiten. ISBN: 978-3-10-075134-8.
Versteckspiele hinter dem Spiegelbild
Der Anfang beginnt mit einem Ende. Eine Frau namens Gillian liegt im Spital und hat kein Gesicht mehr. Mit dem Antlitz verliert sie auch ihr früheres Leben, die Vergangenheit wird zu schummrigen Erinnerungsfetzen, Gillian erinnert sich vage an einen Autounfall. Ein Arzt taucht am Bett auf und erklärt ihr, dass sie ein neues Gesicht bekommen wird. Als er geht, hinterlässt er ihr einen Spiegel, den sie sich vors Gesicht hält, «so als wolle sie sich dahinter verstecken».
Das Versteckspiel vor sich selbst wird zum Hauptthema ihres Lebens nach dem Unfall: Ohne die Spuren und Anhaltspunkte, die ihr früheres Gesicht stets lieferte, fällt es Gillian immer schwerer, ihr altes Ich mit ihrer Situation zu verbinden. Sie versucht sich an ihr Leben als Fernsehmoderatorin vor dem Unfall zu erinnern, aber die Frau auf den vielen Bildern in ihren Alben bewegt sich immer weiter weg und ist zuletzt fast nicht mehr erkennbar.
Doch damit nicht genug: Jetzt, wo die Maske der alten Gillian nicht mehr vorhanden ist, kommt ein inneres Bewusstsein zum Vorschein, das ihr früheres Leben als oberflächliche Inszenierung entlarvt. Als sie alte Videoaufnahmen von sich anschaut, stösst sie auf eine Gillian, die ihr ganzes Leben auf einer Bühne austrug: «Ihre Stimme klang falsch, sie sprach einen auswendig gelernten Text. Sie spielte eine Rolle in einem schlechten Film.» Sie merkt, dass sie ihre fehlende innere Lebendigkeit mit einer gespielten Gillian kompensierte, die sie mit ihrem Gesicht als Bühne an die Öffentlichkeit brachte. Nun ist die Bühne weg und sie muss den Gang hinter die Kulissen wagen, um sich neu finden zu können.
Ein maximales Ausmass an Kopfkino
Gillians Suche nach sich selbst im ersten Teil des Buches kommt gewohnt schmucklos daher. Stamm bleibt sprachlich so neutral wie möglich, um das maximale Ausmass an Kopfkino zu erlauben. Je einfacher die Wörter, desto facettenreicher die Geschehnisse zwischen den Zeilen. Das funktioniert solange gut, bis es redundant wird: Mehr als hundert Seiten lang lässt Stamm seine Protagonistin in Erinnerungen waten und immer wieder auf die Tatsache zurückkommen, dass sie sich all die Jahre über verborgen blieb. Zum Glück schreibt dieser Mensch so hervorragend. Ansonsten wäre das Einprügeln der Deutung nach spätestens sechzig Seiten unerträglich.
Nach dem ganzen Seelenstriptease taucht ein weiterer Charakter auf: Künstler Hubert (woher Stamm nur immer diese merkwürdigen Namen nimmt?), der gerne Frauen porträtiert, am besten solche, die sich «nicht in ihren Bewegungen verhüllen», um möglichst nah an ihr «inneres Wesen» zu kommen. In diesen Formulierungen sitzt der nächste stilistische Wermutstropfen des Buches: Die straffe und trockene Prosa bewegt sich in «Nacht ist der Tag» nicht selten nah an der Kitschgrenze. Wenn beispielsweise von Gillians Maske die Rede ist, hinter der sie sich ihr Leben lang versteckt hat, dann klingt das fast zu simpel, so als würde uns die Protagonistin weiterhin mit Floskeln ihr wahres Wesen verweigern.
Fertig mit dem Rumgehirne
Die weichgezeichneten Figuren, die sich aus dieser Erzählweise ergeben, müssen glücklicherweise nicht ohne Umrisse bleiben. Nach 200 Seiten Auseinandersetzung mit sich selbst ist endlich wieder Gegenwart bei den Protagonisten: Hubert und Gillian treffen sich in einem Ferienclub im Graubünden und sind zum ersten Mal wirklich da.
Das ist an erster Stelle dem spärlichen Einsatz von emotional aufgeladener Sprache zu verdanken. Ein Kniff, der zum grossen Talent des Schweizers gehört: In der Kargheit der Geschichte wirken Stamms Bilder nämlich umso stärker. Wenn Hubert Zeit mit seinem Sohn verbringt oder Gillian Touristen im Ferienclub den Weg zum Erholungsbereich schildert, dann kommt endlich die altbekannte Schönheit des Alltäglichen zum Zuge, die Stamm in seinen früheren Romanen stets so meisterhaft zu erzählen wusste.
Gegen Ende ist der Schweizer Autor also wieder ganz der Alte. Dahin zu gelangen hat ihn acht Jahre seines Schriftstellerlebens gekostet – so lange schrieb er an der Geschichte von Gillian und ihrem verlorenen Gesicht. Eine Tatsache, die man dem Roman in manchen Abschnitten anmerkt: Verschiedene Komponenten der Geschichte gehen teils etwas unnatürlich ineinander über. Sinn macht der konstruierte Ablauf zum Schluss aber trotzdem: Das Ende schliesst zyklisch wie Tag und Nacht mit einem Anfang, der offener nicht sein könnte.
Und wer sich (wie ich) am Ende dann doch noch fragt, was dieses verflixte Sonett jetzt mit der ganzen Geschichte zu tun haben soll, nimmt sich am besten die Originalfassung zu Hilfe, die um einiges verständlicher als ihre deutsche Übersetzung daherkommt:
All days are nights to see till I see thee,
And nights bright days when dreams do show thee me.
In dem Sinne: Gute Reise!
Dieses Video sagt zwar nichts über Stamms neues Buch aus, vermittelt dafür exklusiv tiefgründige Einsichten vom Autor persönlich: