Maria Netter, die einfühlsame Fotografin der Kunstwelt

Maria Netter hat Mitte des 20. Jahrhunderts alles fotografiert, was in der Kunstwelt Rang und Namen hatte. Das Museum Tinguely zeigt nun eine Auswahl ihrer Werke.

Maria Netter fotografiert sich 1960 im Spiegel mit ihrer Leica M3.

(Bild: © Maria Netter/SIK-ISEA, Zürich)

Maria Netter hat Mitte des 20. Jahrhunderts alles fotografiert, was in der Kunstwelt Rang und Namen hatte. Das Museum Tinguely zeigt nun eine Auswahl ihrer Werke.

Das Museum Tinguely zeigt einen kleinen, ja winzigen Nachruf auf eine fast vergessene Basler Kritikerin einer alles andere als vergessenen Epoche: Maria Netter, die ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer der einflussreichsten Kunstkritikerinnen avancierte.

Nach ihrem Tod 1982 hinterliess sie mit ihren Texten und Fotografien so zahlreiche wie sehenswerte Einblicke in eine Zeit, als mit der Kunstwelt irgendwie noch alles in Ordnung war.

Maria Netter fotografiert sich 1960 im Spiegel mit ihrer Leica M3.

Maria Netter fotografiert sich 1960 im Spiegel mit ihrer Leica M3. (Bild: © Maria Netter/SIK-ISEA, Zürich)

Anlässlich der kürzlich beim Schwabe Verlag erschienenen Publikation über Maria Netter mit dem Titel «Augenzeugin der Moderne» hat das Museum Tinguely am Rande der laufenden, unübersehbaren Ausstellung von Ben Vautier eine verschwindend kleine Präsentation über die 1936 von Berlin nach Basel emigrierte Kunsthistorikerin eingerichtet.

Neben Texten findet man dort auch Digitaldrucke einer Auswahl aus den über 20’000 Negativen aus ihrem Nachlass, der von der Fotostiftung Schweiz betreut wird. Diese Negative befinden sich inzwischen in der Obhut des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), das sie künftig einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen will. Wenn man sich die Fotos ansieht, hätte man gerne mehr gesehen.

Versammelte Kunstwelt

Auf den Fotografien tummeln sich die versammelten Vertreter der Kunstwelt, wie sie zwischen 1945 bis 1975 bestand und welche den heutige Kunstbetrieb entscheidend geprägt hat. Zu sehen sind die Figuren, die mit ihrer künstlerischen, kuratorischen oder sammlerischen Praxis die Grundsteine für fast alles zeitgenössische Schaffen gelegt haben – beispielsweise der erst im September verstorbene Jean-Christophe Ammann in jungen Jahren und schicker Kleidung, damals Leiter des Kunstmuseums Luzern und wie Netter aus Berlin stammend.

Oder Harald Szeemann, der an den Fotografien spontanes Interesse bekundete und mithalf, die abgebildeten Personen zu identifizieren – während der Vorbereitung von Ausstellungen und der Documenta 5 in Kassel, die unter seiner Leitung stand. 

Daniel Spoerri und Joseph Beuys in der Kunsthalle Bern, 22.11.1969.

Daniel Spoerri und Joseph Beuys in der Kunsthalle Bern, 22.11.1969. (Bild: © Maria Netter/SIK-ISEA, Zürich/Courtesy Fotostiftung Schweiz)

Weiter Rudolf Zwirner, dessen Sohn heute in einem der grössten Galerieräume im New Yorker Galerieviertel Chelsea ein Powerhouse des internationalen Kunstmarkts betreibt. Man sieht das Innere des Palazzo von Peggy Guggenheim oder kann Sol Le Witt mit Carlo Huber beim Einrichten einer Ausstellung in der Kunsthalle Basel zusehen. Jener Carlo Huber, dem wie Netter stets viel daran lag, die zeitgenössische amerikanische Kunst auch dem gelegentlich von den Alpen verstellten Blick der Schweizer nahe zu bringen.

Rothko als Poster

Es ist lange her, seit man dafür wie Netter mit einer Leica M3 um den Hals den Ozeandampfer nach New York besteigen musste: Die Rothkos bekommt man heute als Hochglanz-Posterzugabe zum Rauchglasfernsehmöbel in der Ikea gleich dazu. Die Originale selbst kosten derweil mehr als das Haus, in dem man besagtes Möbel dann aufstellen möchte. Die Aneignung durch die Massenkultur und die Fetischisierung des Originals selbst zeigen, wie sehr die Epoche nach dem zweiten Weltkrieg zu einer modernen, wenn auch materialistischen Vergangenheitsutopie geworden ist.

Was damals neu und aufregend unverstanden war, gilt inzwischen als sicheres Zeichen für Geschmack und Kulturbewusstsein. Für ein Rothko- oder Giacometti-Poster muss sich heute niemand mehr verteidigen. Dies ist nicht nur der Kunst selbst, sondern auch den ausdauernden Anstrengungen von Kritikern und Vermittlern zu verdanken. Für die Suche nach dem frischen Kunstwind auf der anderen Seite des Nordatlantiks in den 50er- und 60er-Jahren hat die (wie damals scheinbar alle) kettenrauchende Maria Netter all ihre Energie und schliesslich auch ihre Gesundheit gegeben.

Hans Arp in der Ausstellung seiner grafischen Werke im Kunstmuseum Basel, 1959.

Hans Arp in der Ausstellung seiner grafischen Werke im Kunstmuseum Basel, 1959. (Bild: © Maria Netter/SIK-ISEA, Zürich/Courtesy Fotostiftung Schweiz © 2015, ProLitteris)

Doch nicht alles wurde von ihr mit offenen Armen empfangen: Gegen Ende ihres journalistischen Schaffens bekundete sie dann doch Mühe mit der zeitgenössischen Kunst, vieles aus der Konzeptkunst und Pop Art wollte nicht mehr so recht in ihr Konzept des Schönen passen, sie mochte das Stille lieber als das Laute, zog sichtbare Klarheit rätselhaften Konzepten vor. Netter, selbst Kind einer jüdischen Industriellenfamilie, wechselte zum Christentum über und studierte nach ihrer Emigration in Basel zuerst Theologie bei Karl Barth. Die Tendenz zur andächtigen Haltung vor der Skulptur war also kein Zufall.

Netters Texte besprechen oft die Ästhetik und Wirkung der Kunst, beglückwünschen eine bestimmte Ausstellungsanordnung oder kritisieren diese als «Irrgarten in engen, in Vieux-Rose gestrichenen Kabinetten», eine Documenta bezeichnete sie ebenso als «romantischen Irrgarten». Sie verlangte nach Ordnung und Aufrichtigkeit und sah sich als Vermittlerin dieser Werte. Darum sprach ihr die Ehrlichkeit der modernen Plastik zu, für die sie eine einfühlsame Beobachtungsgabe an den Tag legte.

Von Chagall bis Joan Mitchell

Die eigentliche Entdeckung an Maria Netters Werk sind jedoch die bereits erwähnten Fotografien, die sie nebenher und angesichts deren Anzahl offensichtlich unablässig schoss. Da ist die Einfühlsamkeit wieder, und sie wirkt in Fotografien viel entspannter als in Kunstkritiken. In «Augenzeugin der Moderne» sind Bilder zu sehen, die zu echter Nostalgie verleiten könnten, wollte man sich dieser dann doch hingeben: Marc Chagall im sommerlichen Garten, von seinen Enkelkindern, Marlboros und Perrier umringt. Serge Poliakoff in einer Galerie Gitarre spielend, man sieht nicht genau, ob er dazu auch singt, glauben würde man es gerne. Wieder Ammann, diesmal mit Schlapphut, offenem Hemd und im Brusthaar versinkender Goldkette neben einer Niki de Saint-Phalle, für einmal nicht in Lederjacke und Cowboystiefeln, sondern in eine weisse Rüschenbluse gekleidet. Jean-Paul Riopelle und Joan Mitchell mit Serge Brioni im Café in Venedig, wieder Marlboros und Perrier, vielleicht auch Pastis. Es liest sich wie ein Familienalbum der 60er Jahre, die rosa Brille ist im Kauf inbegriffen. Dan Flavin sah 1975 aus wie ein braver Schuljunge, Carl André wie ein irrer Waldschrat.

Alberto Giacometti in seinem Atelier, Paris, 1955.

Alberto Giacometti in seinem Atelier, Paris, 1955. (Bild: © Maria Netter/SIK-ISEA, Zürich/Courtesy Fotostiftung Schweiz © Succession Alberto Giacometti / 2015)

Letzterer ist bekannt für die etwas unbedachte Aussage, dass doch all das theoretische Gerede über Kunst «nichts als Bullshit» sei. Dem hätte auch auch Maria Netter zugestimmt: Im Buch wie auch in der Präsentation zeigt sich eine unverfrorene Leichtigkeit, die solch hinderliche Dinge wie Theorie schlicht umgeht. Wie André liessen nämlich auch Netter sämtliche «kunsthistorischen Theorien völlig kalt», so die Publikation. Also schauen statt fühlen. Damit muss man nicht einverstanden sein, gelegentlich könnte es aber allen gut tun, ohne all das angestrengte Verstehen- und Erklärenwollen einfach mal die sinnliche Erfahrung ihres Amtes walten zu lassen. Netter kämpfte für eine Lehre des Sehens, die kein Vorwissen erfordert, sondern einfach Augen und einen offenen Geist.

Die aus der Bevölkerung stammenden Urteile über die Kunst fielen damals trotzdem nicht anders aus als heute. Ein Leserbrief zu einem von Netters Artikeln in der Weltwoche vom 30.9.1960 erklärt: «Dem möchte ich beifügen, dass ich es erstaunlich finde, dass sich die sonst eher zurückhaltende Berner Kunsthalle dazu verleiten lässt, einen solchen Schmarren wie die sogenannten Eisenplastiken von Jean Tinguely öffentlich auszustellen. Meinetwegen soll der seine klappernden Rosthaufen auf den Rummelplätzen zur Volksbelustigung vorführen; in unserer Kunsthalle ist für solche Machenschaften einfach kein Platz.» Bekanntlich hat sich die öffentliche Meinung über Tinguelys Kunst inzwischen deutlich verändert.

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Maria Netter, Museum tinguely, bis 7. Februar 2016.

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