Marie Noëlle: «Wie konnte Marie Curie das alles verkraften?»

Der Film «Marie Curie» zeigt die polnische Physikerin für einmal von einer anderen Seite: als alleinerziehende Mutter und Ehebrecherin. Ein Gespräch mit Regisseurin Marie Noëlle über eine Frau, die eben nicht nur Wissenschaftlerin war.

Geniale Wissenschaftlerin, starke Frau: Marie Curie, gespielt von Karolina Gruszka.

(Bild: © P'Artisan Filmproduktion)

Der Film «Marie Curie» zeigt die polnische Physikerin für einmal von einer anderen Seite: als alleinerziehende Mutter und Ehebrecherin. Ein Gespräch mit Regisseurin Marie Noëlle über eine Frau, die eben nicht nur Wissenschaftlerin war.

Frau Noëlle, Ihre letzten Filme spielten im Spanischen Bürgerkrieg oder zur Zeit des bayrischen Königs Ludwig II. Jetzt geht es um Marie Curie – was fasziniert Sie an der polnischen Physikerin? 

Ich kenne Marie Curie, seit ich ein Mädchen bin. Als ich zwölf war, hat man mir zum Geburtstag eine Biografie von ihr geschenkt, die ich sofort verschlungen habe. Ich fand das unglaublich – dass sich eine Frau so durchsetzt und sich mit so viel Leidenschaft für die Wissenschaft einsetzt. Curie war damals ein Vorbild, ich studierte später auch Mathematik und träumte von einer Karriere in der Forschung.

Aber es kam anders.

Es kam anders. Vor sieben Jahren las ich in einem Buch über die Affäre, die Curie mit dem verheirateten Paul Langevin hatte und war total überrascht. Davon hatte ich zuvor noch nie gehört. Also recherchierte ich und entdeckte, dass 1911 in Paris dieser Riesenskandal stattfand, im Ausmass etwa vergleichbar mit der Dreyfus-Affäre. Als die Boulevardpresse von der Beziehung erfuhr, wurde Curie als jüdische Polackin beschimpft, die nach Frankreich gekommen war, um brave Ehemänner zu verführen. Was reichlich abstrus scheint, schliesslich war Curie weder Jüdin noch besonders verführerisch (lacht). 

Marie Curie war mehrfache Nobelpreisträgerin, Professorin und Radiologin im Ersten Weltkrieg: In ihrem Leben verbergen sich viele interessante Geschichten. Und doch haben Sie als Ansatz und Mittelpunkt des Films diese Affäre genommen. Weshalb?

Weil es mich empört hat, dass in den vielen Biografien diese Affäre viel zu wenig zur Sprache kommt. Bis vor zehn Jahren hat man die Geschichte unter den Teppich gekehrt, weil es damit nicht so gut aussah für die Franzosen. Natürlich war Marie Curie eine Wissenschaftlerin und ein genialer Mensch, aber genauso war sie eine Frau mit einem schweren Schicksal. Das interessierte mich: Wer ist diese Frau? Wie ertrug sie den Verlust ihres Ehemannes, das Aufziehen der beiden Kinder? Den Sexismus in der Branche? Wie erlebt man so was, wie kann man das alles verkraften?



Skandalöse Affäre: Marie Curie (Karolina Gruszka) und Paul Langevin (Arieh Worthalter).

Skandalöse Affäre: Marie Curie (Karolina Gruszka) und Paul Langevin (Arieh Worthalter). (Bild: © P’Artisan Filmproduktion)

Für Ludwig II. haben Sie jahrelang recherchiert – wie sah die Recherche bei Marie Curie aus?

Ich beschränkte mich auf sehr persönliche Dokumente: Viele Briefe zwischen ihr und ihrer Schwester sind noch vorhanden, Briefe an die Töchter ebenso. Ausserdem wusste ich, dass Curie nach dem Tod ihres Mannes ein Tagebuch geschrieben hatte, das in der französischen Nationalbibliothek zu finden ist. 

Der Briefwechsel mit Langevin auch?

Von diesen Briefen gibt es auch noch einige, ja. Der Brief, der den Skandal verursacht hat, ist auch im Film untergebracht. Noch krasser aber waren die Protokolle der Wahl in die Académie des sciences …

… die Akademie, die darüber debattierte, ob Marie Curie als erste und einzige Frau den Platz des verstorbenen Physikers Désiré Gernez bekommen sollte.

Wie diese Männer in der Académie sich über das Spatzenhirn einer Frau äusserten! Das war unmöglich. Da denkt man, das gibts doch nicht, dass belesene Männer solch extreme Haltungen vertreten können. Aber das war eben das Denken jener Zeit. 



Darf sie oder darf sie nicht? Mitglieder der Académie des sciences diskutieren Curies Aufnahme (Filmausschnitt).

Darf sie oder darf sie nicht? Mitglieder der Académie des sciences diskutieren Curies Aufnahme (Filmausschnitt). (Bild: © P’Artisan Filmproduktion )

Im Film wird Marie Curie als Wissenschaftlerin immer wieder auf die Grenzen ihres Geschlechts hingewiesen. Sie geniesst zwar Anerkennung, aber weit weniger Respekt als ihre männlichen Kollegen. Wäre sie ein Mann, so Curie an einer Stelle im Film, hätte man die Affäre grosszügig übersehen. Ist Marie Curie eine feministische Figur?

Ich mag diesen Feminismus-Begriff nicht so sehr. Es ging mehr um Freiheit. Curie war eine freie Person, frei in ihrem Geist, die sich nicht an die Konventionen hielt. Was sie für richtig hielt, tat sie.

Marie Noëlle

Marie Noëlle studierte Mathematik und ist seit 1982 als Drehbuchautorin, Schriftstellerin und Filmemacherin tätig. «Marie Curie» ist ihr vierter Film.

Es gibt diese Anekdote, wonach Curie nach dem Erhalt des zweiten Nobelpreises von Stockholm zurückkommt und untertauchen muss. Die öffentliche Diffamierung dauerte danach noch fast ein Jahr. Curie geht also nach England zu einem befreundeten Physiker-Paar, das gleichzeitig zwei Suffragetten bei sich versteckt hält. Und Marie Curie schreibt ihrer Tochter: Stell dir vor, da sind Frauen, und die kämpfen für ihre Rechte! Darauf wäre sie alleine nicht gekommen, ihr ging es einfach darum, so arbeiten zu dürfen, wie sie es für richtig hielt.

Im Abspann lassen Sie Curie durchs heutige Paris spazieren – was würde sie heute von unserer Welt halten?

Sie würde bestimmt ganz viele Sachen entdecken, die sie toll fände: Curie war eine Frau, die das Glas immer halb voll sah. Darin liegt vielleicht der grösste Unterschied zu uns: Curie und ihre Zeitgenossen waren Humanisten, die leidenschaftlich an den Fortschritt glaubten. Und Gutes tun wollten für ihre Mitmenschen. Curie wäre heute beeindruckt von all den technologischen Möglichkeiten und würde alles daran setzen, sie sinnvoll einzusetzen und weiterzuentwickeln. Da können wir eine Menge von ihr lernen. 

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«Marie Curie», ab 19. Januar im Kino. 

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