Martha Argerich: Die Umspielerin

Weltklasse im Stadtcasino: Martha Argerich spielte mit dem Royal Philharmonic Orchestra und Charles Dutoit. Das Spiel der Pianistin ist nicht von dieser Welt. Doch seltsam unfassbar.

Martha Argerich 2008 in Luzern. (Bild: Sigi Tischler)

Weltklasse im Stadtcasino: Martha Argerich spielte mit dem Royal Philharmonic Orchestra und Charles Dutoit. Das Spiel der Pianistin ist nicht von dieser Welt. Doch seltsam unfassbar.

Es gibt Musiker, deren Ruf fest mit einer Eigenschaft verbunden ist. Alfred Brendel ist der Intellektuelle. Grigory Sokolov der Mysteriöse. Vladimir Horowitz ist das Genie. Lang Lang wird seinen Ruf als Popstar nicht los (zu Unrecht). Und Glenn Gould ist – Glenn Gould halt. Martha Argerich gehört auch dazu. Sie ist die mit dem Temperament. Warum eigentlich?

Im Stadtcasino ist am Freitagabend die Hölle los. Erwartbar bei diesem Line-Up, sodass man nur müde lächelt über die armen Kerle, die noch an der Abendkasse nach einem Ticket fragen: Die argentinische Pianistin wird begleitet vom Royal Philharmonic Orchestra unter der Leitung ihres früheren Ehemanns Charles Dutoit.

Auf Stuhlkante

Nach der schnurrigen Ouvertüre zu Carl Maria von Webers Oper Euryanthe tritt Argerich auf, um Schumanns Klavierkonzert zu spielen. Kurz vorher, während der Flügel reingeschoben wird, verbreiten die Profis des Orchesters noch etwas pragmatische Stimmung auf der Bühne: Der Oboist übt rasch noch das Hauptthema des ersten Satzes.

Doch man sitzt bereits auf der Stuhlkante, Martha Argerich ist da!, und das Stück von Schumann beginnt so gewaltig, dass keine Zeit bleibt zum langsamen Reinhören.

Schumann Klavierkonzert, Argerich, Chailly, Gewandhaus, 2006
 

Von Beginn an spielt sie mit viel Rubato, wirft eine Figur in doppeltem Tempo hin, um dann wieder grosszügig zu verzögern. Das Aufregende an Martha Argerich ist, dass sie innerhalb der Freiheit, die sie sich nimmt, schlicht bleibt. Und aufregend ist auch, dass sie bei der Kraft, die von ihr ausgeht, unfassbar fein und geschmeidig artikuliert.

Die Mysteriöse heisst Argerich

Da ist es doch, das Temperament! Und ich denke beim hören: Wahnsinn, diese Frau! Aber ich denke es. Sitze auf meiner Stuhlkante und suche Zugang zu dem Eindruck, dass es doch Wahnsinn ist, wie sie spielt. Das Temperament, das ich da höre, fliesst nicht in mich hinein, ich spüre es nicht. Ein seltsames Erlebnis. Wie kann das sein?

Nach einer Weile komme ich drauf: sie umspielt. Sie treibt den Fluss der Musik nicht voran, sondern spielt um das, was vom Orchester kommt, herum. Nicht nebensächlich, sondern magisch gut. Und genau das macht es unfassbar: Die Mysteriöse heisst an diesem Abend nicht Sokolov, sondern Argerich.

Im zweiten Satz wird der Eindruck ihres Spiels vom Stück eingeholt. Es ist ein Satz ohne Richtung. Er besteht aus Anmerkungen, wenn man so will, ein einziges, versonnenes Zögern.

Kurz, bevor die Musik zum Stillstand kommt, bricht der dritte Satz herein und reisst die Musik ins Finale mit sich fort. Und mit der Musik Martha Argerich. Jetzt strömt es. Liegt es an der Komposition? Oder hat sich Argerich schliesslich hineingeworfen? Ich kann es nicht entscheiden.

Am stärksten allein

Vermutlich hält mich jeder Leser, der das Konzert gehört hat, für einen Spinner. Denn die Menge feiert. Es ist ein besonderer Applaus, eine richtige Rückmeldung. Sie lässt Argerich keine Wahl, zwei Zugaben zu geben.

Als erstes ein Stück aus dem Repertoire der hardcore-virtuosen Klaviermusik, das sie mitunter so gerne mag, und anschliessend Schumanns erste Kinderszene.

Beide Stücke, eines ganz einfach, eines ganz schwer, sind zerbrechlich fein. Und wieder passiert etwas Seltsames: Plötzlich ist alle Kraft da. Ihr Spiel, das im Grunde im Klavierkonzert genauso stark und geschmeidig war, entfaltet mit einmal Zauber. Und wie! Wahnsinn!, durchfährt es mich diesmal, ohne dass ich es denke. Vielleicht ist sie doch im Solo am stärksten? Der Gedanke ist banal, doch hier treibt sie selbst die Musik voran.

Zu schade, hat sie vor längerer Zeit entschieden, nicht mehr allein auf der Bühne zu sitzen.

PS: Zur anschliessenden 5. Sinfonie von Tschaikowsky habe ich nichts zu sagen. Ich verstehe die Verehrung nicht (und den Applaus im Stadtcasino), die diesem Komponisten entgegengebracht wird. Die Musik ist theatralisch gut gemacht, aber in ihren Motiven rein dekorativ. Langweilig!

Nur eins: Das Royal Philharmonic Orchestra ist ein Erlebnis.

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