Vijay Iyer gastierte mit seinem indischen Projekt «Tirtha» im Schauspielhaus Basel. Der vielgelobte Jazzpianist erfüllte im Zusammenspiel mit dem Gitarristen Prasanna und dem Perkussionisten Nitin Mitta die hohen Erwartungen.
Wie ein hochvirtuoses, komplexes und zugleich vergnügliches Zahlenspiel mutet es an, was die drei Musiker in den knapp zwei Minuten ihrer letzten Zugabe aus Tasten, Fell und Saiten zaubern. Skalen tanzen auf und ab, fliegen in wilder Jagd über die Bühne, die Töne vollführen einen Slalom, Melodisches ist da kaum zu finden. Ein musikalischer «Spiessrutenlauf», so auch der Titel des Stücks. Irgendwie glaubt man gerne, dass Vijay Iyer, die Hauptperson auf der Bühne, einen Mathematik-Abschluss an der Yale University hat, wie Off-Beat-Macher Urs Blindenbacher verrät, als er selbst mit den Zahlen bei seiner Ansage ins Schleudern kommt. Vor exakt zehn Jahren gastierte die Off Beat Series erstmals im Schauspielhaus. Damals war das Trio des Schweden Esbjörn Svensson eingeladen, ein Bilderstürmer im damals noch etwas eingefahrenen Piano-Jazz.
In der letzten Dekade ist das Piano auch dank Vijay Iyer auf eine neue Ebene gehoben worden. Der New Yorker tamilischer Abstammung ist nicht nur ein innovativer Kopf am Piano, er hat auch das Verhältnis zwischen indischer Musik und Jazz ganz neu geeicht. Das zeigte sich bei seinem Auftritt mit dem Tabla-Spieler Nitin Mitta und dem Gitarristen Prasanna förmlich in jedem Takt.
Von Ravi Shankar zur globalisierten Generation
Seit den frühen 1960ern gab es immer wieder Bestrebungen, indische Klassik mit Jazz zu verzahnen. Legendär die «East meets West»-Unternehmungen etwa von Joe Harriott, John Handy, Ravi Shankar, John Mayer und allen voran natürlich Shakti und des Mahavishnu Orchestras. Doch – um im mathematischen Jargon zu bleiben – haftete all diesen Formationen stets etwas Additives an: Indisches wurde als Klangfarbe, als Kolorit eingesetzt, im besten Falle in ein jazzrockiges Fusionkostüm eingewoben.
Die globalisierte Generation indischer Musiker wächst heute jedoch bereits mit den verschiedensten Vokabularien auf, kann sich der Sprache mehrerer Kontinente gleichberechtigt bedienen. Geographische Parameter treten da fast in den Hintergrund, das Label «East meets West» wird überflüssig. Der 40-jährige Iyer aus Rochester, NY ist Headliner dieser New Generation und hat es mit seiner integrativen Sprache aus US-amerikanischen und indischen Elementen an die Spitze der Kritikerlisten vom «Down Beat» und der «New York Times» gebracht. Mit seinem Trio Tirtha taucht er die Schöpfkelle nun tief in die Klangwelt seiner Vorfahren. Signifikant, dass das Projekt auf einer Auftragsarbeit für die 60-jährige Unabhängigkeit Indiens basiert: Iyer schüttelt mit seinen beiden Kollegen auch musikalisch die Fesseln bisheriger okzidentaler Abhängigkeiten ab.
Herausforderungen an Hörgewohnheiten
Tirthas Stücke, die zumeist abstrakte Namen wie «Dualität», «Polytheismus», «Fülle» oder «Entropie und Zeit» tragen, stellen hohe Herausforderungen an europäische Hörgewohnheiten. Freie Klangflächen auf dem Piano formen sich zu Skalen aus dem indischen Raga-Universum, wetteifern in komplizierten rhythmischen Überlagerungen mit der Gitarre, unterfüttert von flatternden Tablamustern – ein Fest der Polymetrik. Iyer nutzt die improvisatorischen Prinzipien des Bebop, streut Monksche Schalkhaftigkeit ein, meisselt mit hartem Anschlag in den Mittellagen, steigert sich auch mal in den Gestus eines klassischen Konzertpianisten mit Anklängen an Grieg oder Tschaikowsky.
Ein erstaunlicher Saitenmeister
Sein Gegenpart – zugleich die erstaunlichste Persönlichkeit des Abends! – ist der aus Chennai stammende Saitenmeister Prasanna. Der Nerd mit dicker Brille und undurchdringlichen Gesichtszügen kombiniert auch modisch schon Unmögliches: Zum traditionellen langen Kurta-Hemd trägt er rote Turnschuhe. Gänzlich verblüffend, wie er das Glissandieren der Sitar auf die E-Gitarre übertragen hat, mit blitzschnellem Herumrutschen über mehrere Bünde während seiner halsbrecherischen Soli, die er zudem noch ab und an mit seiner Stimme präzise doppelt.
Das Umkreisen des Tons ist wichtig, nicht der Ton selbst. Prasanna, als personifizierter Brückenpfeiler zwischen den Kulturen, beherrscht auch den rockigen Gestus, und versponnene Pasagen malt er durch Tappingtechnik mit beiden Händen. Der hindustanische Schlagwerker Nitin Mitta hat das Handicap, dass in unseren Breiten bereits viele nordindische Tablameister bekannt sind, was seine hohe Kunst natürlich nicht schmälert, und wer genau hinhört, entdeckt auch bei ihm ungewöhnliche Anschlag- und vor allem «Streichel»-Techniken fernab klassischer Konventionen.
Hohe Spannkraft im Triospiel
Die Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten im Zusammenspiel ist frappant, hat immer hohe Spannkraft: Mit «Falsehood» kreieren die drei Musiker ausgesprochen gesangliche Linien, in der Gitarrenmelodie hört man förmlich eine indische Sängerin mit. Im Titelstück «Tirtha» erwächst aus einem loophaften Kreisen ein hymnischer Fluss mit ungebremstem Impetus. «Polytheism» wiederum ist offen von Schönberg, Webern und Berg inspiriert: Prasanna experimentiert mit sperrigen Konstrukten aus Zwölftonreihen, die von Iyer synkopisch beantwortet werden, darunter legt Mitta tatsächlich einen grovenden, fast folklorisch anmutenden Punjab-Rhythmus.
Symmetrie als Hörvergnügen
Am erstaunlichsten ist eine Komposition, die tatsächlich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wissenschaft siedelt, angeregt dazu habe ihn der Konflikt zwischen klassischer Physik und Quantenphysik, bekennt Prasanna: Das Ergebnis ist ein immer wieder neu einsetzendes, hüpfendes Themenfragment, das sich zwischen den Instrumenten scheinbar spiegelt, auch im Krebsgang durchexerziert wird – eine zum Hörvergnügen gewordene Symmetrie. Musik als Mathematik? Man muss es anders herum drehen: An diesem erlebnisreichen Abend zeigte sich, dass sich Mathematik, auf der Zeitachse ausagiert, in hochkarätige, elegante Musik lösen kann.