Beim Festival des Nacherzählten Films kann jeder auf die Bühne stehen und gegen die anderen Nacherzähler um die ehrenvolle Silberne Linde kämpfen. Am 14. März kommt «Total Recall» in die Kaserne. Aber ist Erzählen nicht völlig out? Ein Gespräch mit dem Erfinder.
Es ist nicht zum Aushalten: Wenn man in einer Runde mit Leuten sitzt und jemand fängt an, einen Film nachzuerzählen, den er oder sie gut fand. Wen interessiert die Handlung? Sie ist völlig irrelevant, spricht nicht für sich und hat nichts mit der Sache zu tun: nämlich dass die Person den Film gut fand und das rauslassen will.
Auf der anderen Seite: Wie schön, wenn jemand in aller Ausfühlichkeit erzählt. Also richtig mit: In dem Raum, den ich betrat, sah es so und so aus, und da war ein Mann, ohne Bart, dafür mit Hut und so weiter. Wann hat man das schon zum letzten Mal erlebt, dass man jemand an den Ohren hing, eine halbe Stunde vielleicht, und nicht wollte, dass es aufhört? Als Kind vielleicht?
Mit filmmusikalischem Rahmenprogramm & Popcorn von Storm/Störmer (Worst Case Szenarios) und Janiv Oron (Goldfinger Brothers).
14. März, 19.30 (Türen), 20 Uhr (Beginn), Kaserne Basel, Klybeckstrasse 1b
Anmeldungen an: info@total-recall.org
Der Literaturtheoretiker Walter Benjamin schrieb vor 80 Jahren, mit Einbruch der Moderne sei das Erzählen gestorben. Das Erlebte und die mündliche Weitergabe zählten nicht mehr. Heute ist es noch klarer. Wer will schon etwas erzählt bekommen, wenn er Medien konsumieren kann?
«Schon wahr», sagt Bernd Terstegge, und doch hat er vor 16 Jahren das Festival des Nacherzählten Films ins Leben gerufen. Der Wettbewerb ähnelt einem Poetry Slam, bei dem jeder auf die Bühne stehen kann und mit der Nacherzählung eines Films um die Punkte des Publikums wirbt. Gewinnen kann man die Silberne Linde, die Schwester der Goldenen Palme, denn das Festival entstand im Umfeld wenn schon nicht von Cannes, so doch von der Berlinale.
«Schon wahr», sagt Terstegge, doch zugleich glaubt er nicht an das Verschwinden des Erzählens. «Erzählen ist wesentlicher Teil des Menschseins», sagt er – die modernen Kommunikationstools bedienen nichts anderes als dieses Bedürfnis. Ausserdem glaubt er an die Kraft vom schieren Wort, obwohl er selber Industriefilmer ist und Bewegtes Bild an der Folkwanguni in Essen unterrichtet. «Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? Glaube ich nicht.»
Der Gewinner der Silbernen Linde 2009
Herr Terstegge, das Festival des Nacherzählten Films gibt es seit 1999. Reicht es nicht langsam?
Es stehen immer andere Leute auf der Bühne. Es wiederholt sich, aber nur so, wie sich Menschen eben wiederholen. Ich habe über die Jahre gemerkt, dass es im Groben zwei Arten von Nacherzählungen gibt. Bei den Gewinnern hält sich ungefähr die Waage, ob sich die Erzählung über die negativen Aspekte eines Films belustigt oder Begeisterung ausdrückt.
Es sind also nicht alle auf Humor und Pointen aus.
Nein. Auch wenn die den grössten Erfolg haben. Das Publikum entscheidet über den Sieger. Leute, die ernsthaft erzählen, gewinnen seltener das Publikum für sich.
Die ernsten Erzähler haben es schwerer?
Ja. Obwohl – Wenn jemand einen düsteren Film erzählt und das auf eine Weise, dass das Publikum mucksmäuschenstill sitzt, dann ist das im Grunde die grössere Leistung.
Wissen Sie was? In neun von zehn Fällen, wenn mir jemand einen Film erzählt, langweile ich mich zu Tode. Geht Ihnen das nicht so?
Na, deswegen arbeite ich ja seit 16 Jahren daran, dass es für das Nacherzählen endlich eine Ausbildung gibt. Nein, nur Spass. Mir geht es nicht so wie Ihnen. Und der Punkt ist, dass auf der Bühne eine andere Erzählsituation ist. Die Reaktion vom Publikum leitet meistens die Erzählung. Häufig erzählen die Leute Dinge, die sie ursprünglich gar nicht erzählen wollten.
Walter Benjamin sagt, mit der Moderne stirbt das Erzählen aus. Stimmt das?
Ja, auch ich bin mit dem Fernsehen aufgewachsen, alle Köpfe schauen auf die flimmernde Kiste. Es ist ein Kraftakt, dem zu widerstehen und sich einer Erzählung zuzuwenden. Auf der anderen Seite ist das Erzählen überall. Bei der Selbstdarstellung von Politikern geht es um die Erzählung, mit der sie sich inszenieren. Wie wird die Ukrainekrise erzählt? Verunklärend natürlich, nicht aufklärend, das ist ein wichtiger politischer Aspekt. Die Menschen erzählen vielleicht keine Märchen mehr, aber sie erzählen im Alltag die ganze Zeit. In neuen Medien wird pausenlos erzählt, wenn auch häufig nur mit einem Foto. Es geht überall um Erinnerung, Erzählen und Gefühle. Erzählen gehört zum Menschsein entscheidend dazu.
Die Erzähler haben zehn Minuten Zeit auf der Bühne. Warum so lange?
Es braucht meist zwei bis drei Minuten, bis man die Person auf der Bühne zu spüren anfängt und dahinter kommt, wie sie damit kämpft, den Film irgendwie zu bewältigen. Um den springenden Punkt nachvollziehen zu können, ist die achte Minute häufig besser geeignet als die zweite.
«Ich will mittenrein ins Triviale.»
Woher hat das Festival seinen drolligen Namen?
Im «Total Recall» wird Arnold Schwarzenegger eine Erinnerung ins Hirn gepflanzt, das passt. Und ich wollte an dem Festival keinen Fokus auf Hochkultur, sondern mittenrein ins Triviale. Die Leute, die auf der Bühne erzählen, kommen von überall her, Arbeitslose, Schauspieler, alles mögliche.
Warum ist Ihnen das Thema der Erinnerung so wichtig?
Die Wissenschaft geht davon aus, dass es bis zu zehn verschiedene Arten der Erinnerung gibt. Wenn ich morgens nach dem Aufstehen weiss, dass ich laufen kann, ist es eine andere Art der Erinnerung, als wenn ich weiss, wann der Geburtstag meiner Freundin ist (oder eben nicht weiss). Und es gibt einen Bereich, der nur aktiviert wird, wenn ich während eines Ereignisses Emotionen habe. Nur dann speichert das Hirn. Wenn ich mich umgekehrt an diese Dinge erinnere, geht das nur im Zusammenhang mit denselben Gefühlen. Das Kino ist eine Gefühlsmaschine. Wenn ich davon erzähle, werde ich in das gleiche Gefühl versetzt. Ich habe mehrfach erlebt, dass Amateure ohne Plan einen Film wie «Rocky 4» erzählen und wieder mitten in der Explosionsorgie drin sind. Währenddessen fragen sie sich selber: Was passiert hier gerade mit mir?
Wie sehr ist das Erzählfestival vom Poetry Slam inspiriert?
Klar, das ist nah. Aber wenn ich ein Buch schreiben würde, würde es «Kritik an der Kreativität» heissen. So vieles, was kreativ heisst, wiederholt sich. Am Festival muss ich nicht kreativ sein, es wird nur nacherzählt. Damit erreiche ich ganz andere Leute, die dann dort auf die Bühne stehen. Es geht nicht in der Linie darum, klasse zu sein, weil man etwas erzählen kann, sondern um die Erzählung selbst.
Aber es ist doch ein Wettbewerb.
Die Punkte, die man da gewinnen kann, sind eher der Rahmen. Das Festival war ursprünglich das ironische Konkurrenzprogramm zur Berlinale. Als wir zusätzlich zur Plastiktrophäe einmal einen Preis ausschrieben, zwei Tickets für eine Filmaufführung, fingen sofort die Diskussionen an, ob nicht ein anderer hätte gewinnen sollen. Darum haben wir mit den Preisen wieder aufgehört.
«Eine Auftritt ist gut, wenn jemand wirklich etwas zu erzählen hat.»
Was macht eine gute Erzählung aus?
Dass der oder diejenige, die auf der Bühne steht, wirklich etwas erzählen will. Authentizität. Das setzt die nötige Energie frei. Es kann auch konzipiert sein, wenn Leute Bühnenerfahrung haben. Und der Bogen ist wichtig. Die Erzählung muss ein gutes Ende haben, auch wenn der eigentliche Film noch gar nicht zu Ende ist. Es gibt alles. Einer hat «Easy Rider» mit Asterix und Obelix als Helden erzählt. Eine andere Frau kam auf die Bühne und hat genau einen Satz gesagt: über eine Szene, in der Uma Thurman in «Kill Bill» einen Kopf abhackt.
Bis wann kann man sich bewerben?
Ich habe immer eine Handvoll Anmeldungen dabei, aber man kann am Abend selbst spontan auf die Bühne kommen. Wer vor der Kasse sagt, dass er mitmacht, der kommt umsonst rein und darf jemanden mitnehmen. Auf diesem Wege hat mal einer gewonnen.
Wollen Sie nicht mal einen eigenen Spielfilm machen?
Klar, das ist ein Traum. Ich arbeite viel mit Animationsfilm, für Firmen. Manchmal braucht ein dezidierter Kunde zwei Minuten, um mir zu sagen, was er will. Für die Umsetzung brauche ich dann zwei Monate. Manchmal sage ich dann: Sags doch lieber, statt eine Animation zu machen.
Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte – stimmt nicht?
Ich glaube, das Wort ist stärker als das Bild. Ich kann jeden Film kaputt machen, wenn ich einen falschen Satz ins Drehbuch einfüge. Beim Vorstellen werden die gleichen Hirnregionen aktiviert, wie wenn ich schaue. Mit der Sprache kann man in diese Region wunderbar reingrätschen. Das Wort ist schneller, schnell gesagt, es braucht keinen Aufwand. Umgekehrt sind komplexe Sachen viel schwieriger mit Worten zu zeigen. Deswegen gibt es bei uns auch nur die Silberne Linde und nicht die Goldene Palme. Die ist den Filmemachern vorbehalten.
Vielleicht gibt es ja noch einen Klassenschlager mit erzählten Filmen.
Es bleibt mein erklärtes Ziel, das Festival nach Hollywood zu bringen, wo dann Herr Schwarzenegger «Total Recall» nacherzählt.