«Migranten sind ein Geschenk für die Schweiz»

Filmerin Anna Thommen interessiert sich für die Ausgegrenzten der Gesellschaft.

Zwei Jahre lang hat Anna Thommen junge Migranten im Deutschkurs begleitet. «Neuland» feiert Premiere am Zurich Film Festival. (Bild: Stefan Bohrer)

Die Dokumentarfilmerin Anna Thommen interessiert sich für die Ausgegrenzten der Gesellschaft. Sie erzählen mehr über uns, als wir selber können. Und sie bereichern uns. Jetzt wurde ihr der Förderpreis des Kantons Baselland verliehen.

Anna Thommen kommt mit dem Velo angesaust, auf den letzten Drücker, kaum vorher hat sie den Termin noch etwas hinausgeschoben. Sie ist seit sechs Monaten Mutter und jeden Tag zappeln 30 Mails in ihrem Postfach. Dieses Jahr hat sie zwei Dokumentarfilme abgeschlossen, aber der Rummel rund um die Veröffentlichung geht erst richtig los. Das ist nicht umsonst, in diesen Tagen wurde ihr der Förderpreis des Kantons Baselland verliehen, dotiert mit 10’000 Franken. Aber müde macht es auch. Sie lacht glockenhell und ihre Augen leuchten, aber rundherum sieht man die Erschöpfung.

Wir plaudern auf einer Bank am Lohnhof, die Luft ist voller Spätsommer. Schönes, heiles Leben in Basel – Anna Thommens Thema ist hingegen die Ausgrenzung. 2008, noch als Filmstudentin in Luzern, hat die 32-Jährige aus Maisprach die Kurzdoku «Second Me» gedreht, das Portrait eines Mannes, dessen Leben hauptsächlich in der digitalen Parallelwelt Second Life stattfindet. Den Zugang zur realen Gesellschaft findet dieser Mann nicht mehr. Es ist einer, der drin war, mit Frau und Job, und trotzdem hinausfiel.

Zwei neue Filme

Dieses Jahr wurden gleich zwei Filme fertig. «Ein Stück Wahnsinn» hat sie zusammen mit Gabriela Betschart gedreht. Der Film zeigt Behinderte, die gemeinsam Theater spielen. Sie sind aufgrund ihrer geistigen Andersartigkeit ausgeschlossen – und sei es in eine umfassende Betreuung. Und schliesslich der Film «Neuland», der sich 90 Minuten Zeit nimmt, um jugendlichen Migranten näherzukommen, die mitten unter uns in Basel leben und doch kaum teilhaben an unserem gesellschaftlichen Leben.

Am Mittwochabend, 25.9., findet das Baselbieter Kulturpreisfest 2013 in der HANRO (Textilpiazza) in Liestal statt, an dem Anna Thommen den Filmförderpreis erhält. Weitere Auszeichnungen erhalten:

  • Spartenpreis «Theater/Kabarett»: Anet Corti (Muttenz/Zürich)
  • Spartenpreis «Musik»: Kaspar Ewald (Arboldswil/Luzern)
  • Spartenpreis «Literatur»: Sandra Hughes (Allschwil)

«Ich bin ein unpolitischer Mensch», sagt Anna Thommen. Sie will die Geschichten erzählen, aus denen vielleicht einmal Politik entsteht. Und sie will sich ihr eigenes Bild von den Zuständen machen, ungefiltert durch den Blick der Medien. Deswegen geht sie selbst an die Orte und erzählt von ihnen. Etwa das IBK, die Integrations- und Berufsklasse in der Kaserne Basel. Dort hat sie zwei Jahre lang eine Gruppe von Jugendlichen begleitet, die soeben in der Schweiz angekommen waren und kaum deutsch sprachen.

«Ich interessiere mich für junge Migranten, weil sie den schlechtesten Ruf haben. Sie gelten als Krimminelle, die im Trainer herumlaufen und Leute anficken. Mir selbst geht es nicht anders. Neben einige der Schüler, die ich im IBK kennengelernt habe, hätte ich mich nachts im Tram nicht setzen wollen.»

Ein anderes Bild von jungen Migranten

Wie anders war ihr Eindruck, als sie die Klasse von Christian Zingg kennenlernte: «Das sind Welten im Vergleich zu unseren Schulklassen!» So erwachsen und respektvoll hat sie die Schüler erlebt. Woher kommt das? «Sie sind dankbar», sagt Thommen. Dass sie in Basel in die Schule gehen können und dass sich ein Lehrer so für sie engagiert. Das hat in der Heimat niemand von ihnen erlebt. Was Lehrer Zingg betrifft, so wirkt er im Film zunächst denkbar anstrengend:

Auf dem Hof der Basler Kaserne begrüsst er seine neue Klasse. Die jungen Leute sehen alle völlig fertig aus von den Traumamarathons, aus denen ihr Leben besteht. Lektion 1: Herr Zingg erläutert überdeutlich die Toiletten und wie man auf Deutsch sagt, dass man mal muss. Krass, steht in die afrikanischen, nahöstlichen und osteuropäischen Teeniegesichter geschrieben, so soll das jetzt weitergehen? Mit der Zeit liebt man Zinggs Auftreten jedoch als Kauzigkeit, eigentlich bemerkt man es gar nicht mehr. Man sieht nur noch, wie er alles dransetzt, um diesen jungen Benachteiligten auf den Weg zu helfen. Und man sieht auf der anderen Seite die Schüler, die man sonst nur aus Statistiken kennt: ihren Charme, ihre Bemühungen und – allem voran – ihre Verletzlichkeit.

Neues Projekt geplant

Woher kommt eigentlich das Interesse für die Ausgegrenzten? «Ich mag die Buntheit da draussen», sagt Anna Thommen. Von der Parallelwelt her lernt man viel über unsere eigene. Sie ist klein und angepasst, man weiss, wie man sich verhalten muss. Es fehlt die Vielfalt. «Migranten sind ein Geschenk für die Schweiz, sie bereichern uns mit dem anderen Leben, das sie führen.» Und das ist Thommens Wunsch ans Publikum: Dass ihm nicht egal ist, wie es den Schülern weiter ergeht. In diesem Fall und am besten in anderen Fällen auch. Thommen will den gesichtslosen Migranten ein Gesicht verleihen.

So klar war das nicht immer und schon gar nicht mit dem Video. Ein Freund sagte ihr, sie solle doch mal an die Infoveranstaltung für den Studiengang in Luzern gehen. Sie hatte keine Lust und dachte, Video bedeute vor allem viele Kabel. Bei der Ansprache des Rektors hatte sie eine kleine Erleuchtung: Film soll es sein. Jetzt ist die ehemalige Primarlehrerin voll dabei und mit dem Preisgeld in der Tasche wird es demnächst weitergehen. Womit, rückt sie nicht raus. Recht so. Ideen soll man hüten.

«Neuland» wird vom 28.9. bis 3.10.2013 am Zürich Film Festival gezeigt und läuft dort im Dokumentarfilm-Wettbewerb. Anna Thommen ist bei allen Vorführungen anwesend.


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