Milo Rau: «Ich will die absolute Notwendigkeit»

Milo Rau hat mit seiner Europa-Trilogie eine soziologische Studie über einen geschüttelten Kontinent geschaffen. Ein Gespräch mit dem Theaterregisseur über intime Bekenntnisse, die Überwindung des Elends und «diesen Kontinentalkoloss namens EU».

Milo Rau hat mit seiner Europa-Trilogie eine soziologische Studie über einen geschüttelten Kontinent geschaffen, deren zweiter Teil am Samstag im Schaulager als Hörspiel zur Aufführung kommt. Ein Gespräch mit dem Theaterregisseur über intime Bekenntnisse, die Überwindung des Elends und «diesen Kontinentalkoloss namens EU».

«The Dark Ages» ist der zweite Teil Ihrer Europa-Trilogie. Im ersten Teil («The Civil Wars») ging es um junge Männer, die in den Jihad aufbrechen, jetzt geht es um Menschen und ihre Erinnerungen an den Bosnien-Krieg. Sie gehen von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit, vom Nahen Osten nach Osteuropa – wie passt das zusammen?

Die Trilogie hat keine festgesetzte Chronologie. Es ging mir darum, durch die Erinnerungen der Schauspieler verschiedene Standorte und historische Momente in Europa miteinander zu verknüpfen. Im ersten Teil passiert das von Westeuropa aus, die jungen Männer waren aus Belgien und Frankreich. Dieses zweite Mal kommen die Schauspieler aus Deutschland, Russland, Serbien und Bosnien. Im dritten Teil werden es Griechenland, Syrien und Rumänien sein. Also ganz unterschiedliche Geschichten und Herkünfte. Die Schwerpunkte sind aber stets dieselben: Es geht um Krieg, um Elend, um Migration und letztlich auch Gerechtigkeit, dargestellt anhand der sehr persönlichen Geschichten der Schauspieler.

Die Schauspieler in Ihren Stücken gehen ans Äusserste und geben intimste Erinnerungen preis. Wie kommt man so nah an einen Menschen ran?

Das ist eine Sache des Castings. Ich habe sehr lange gesucht, bis ich die perfekten Leute gefunden habe. Ausschlaggebend war nicht in erster Linie, was sie erlebt hatten, sondern wie viel Professionalität sie mitbrachten. Mit Laien ist so ein Stück unmöglich. Die Schauspieler müssen sich ihrer Rollen bewusst sein, und gleichzeitig muss ihnen klar sein, dass in ihrem Innersten, ihrem Privatesten, auch etwas Universales liegt. Inwiefern ist der Mensch, auch wenn er intimste Dinge von sich preisgibt, trotzdem eine Figur? Diese Wechselseitigkeit muss ein Schauspieler verstehen können. 



Seine Arbeit hat internationale Ausstrahlung: Dafür wird Autor und Regisseur Milo Rau mit dem Preis des Internationalen Theaterinstituts geehrt.

(Bild: Archiv sda)

Milo Rau wurde 1977 in Bern geboren. Der Theaterregisseur und -autor gilt als ein Pionier des Reenactment-Theaters. In seinen Inszenierungen arbeitet er, zum Teil mit Laienschauspielern, (Zeit-)Geschichte auf. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Für die Produktion und Verwertung seiner Arbeiten hat Rau 2007 das International Institute of Political Murder gegründet.

Im Sinne von: Wo ist die Rolle, wo bin ich selber?

Genau, bei uns ist alles Text und gleichzeitig Erinnerung. Um ein Leben zu erzählen brauchst du vielleicht fünf Stunden, aber auf der Bühne hast du nur eine halbe Stunde. Wie schaffst du das? Wie kannst du einen Bogen finden, der Sinn macht im Schauspiel, aber auch in Verbindung mit den anderen Schauspielern und mit deiner Lebensgeschichte?

Nicht ganz einfach, schliesslich geht es hier ja um mit Emotionen verbundene Erinnerungen.

Ja, und genau diese Balance muss das Stück halten: die Tragik einerseits, dieses «Leiden, Lernen, Wachsen», und andererseits eine Leichtigkeit, die mit der Entscheidungsfreiheit kommt. Man kann seine Rolle auch negieren oder sich davon abgrenzen. Das eigene Schicksal annehmen oder ablehnen. Im realen Leben macht man das ja auch. Und genau diese Frage stellt sich bei den Schauspielern: Welche Figur habe ich damals in gewissen Situationen gespielt?  

Sie nennen die Trilogie «Europa» – ist es Ihre Aufgabe, ein Bild Europas zu zeichnen?

Mir ging es darum, dem vagen Gerede über Europa und den ganzen Utopien mal eine soziologische Studie entgegenzusetzen. Ein Bild, ja, allerdings weiss man ja noch gar nicht, was dieses neue Europa ist. Dieser Kontinentalkoloss namens EU hat noch keine abgeschlossene Definition, abgesehen von seinen wirtschaftlichen und kriegsverhindernden Aufgaben. Weder für seine Grenzen noch fürs Innere noch für seine Identität. Die Trilogie ist also eher eine Europa-Theorie im Kleinen: In «The Civil Wars» ging es um Krieg, es zerfällt alles, das Alte wird ausgelöscht. In «The Dark Ages» werden die Leute umhergetrieben, Nationalstaaten gibt es nicht mehr, aber auch nichts Einendes. Und in «Empire», dem letzten Teil, kommen dann plötzlich Grenzen auf.

«Die Überwindung des Tragischen, des Unglücks und der Feindschaft funktioniert nur in der Gemeinschaft.» 

Sie sind Theaterregisseur – in erster Linie denkt man da an fiktive Geschichten, an inszenierte Produktionen. Sie aber betreiben dokumentarisches Theater und wählen dafür Schauspieler oder Laien aus, deren Lebensgeschichten eng mit den Inhalten verbunden sind. Wieso?

Für mich ist der Schauspieler als Figur sehr zentral, ebenso wie die Recherchereisen und das Casting. Das Drumherum ist integraler Bestandteil meiner Arbeit. Ich kann nicht Texte verteilen, die Leute in den Probekeller schicken und das Stück dann aufführen. Das wäre für mich unmöglich. Mir reicht das nicht. Ich will die absolute Notwendigkeit.

Real-Life.

Real-Life.

Real-Life könnte aber auch angenehm sein. Stattdessen wählen Sie harte Kost: das Breivik-Manifest, den Völkermord in Ruanda, Konflikte im Kongo. Ist das Elend Ihr tägliches Brot?

Naja, die Wirklichkeit ist natürlich eher eine solidarische. Das ist meine Philosophie: Die Überwindung des Tragischen, des Unglücks und der Feindschaft funktioniert nur in der Gemeinschaft. 

Eine Gemeinschaft, die – in Ihrem Fall – das Elend reinszeniert.

Genau. Ich denke, dass die Wiederholung von Elend in einem Kunstprojekt nur dann Sinn macht, wenn es gemeinschaftlich hergestellt wird. Theater ist für mich ein utopischer Ort, wo eine Gegenrealität entstehen kann, die den ganzen Schrecken der Realität zeigen muss. Kunst ist nicht dafür da, damit wir uns alle entspannen und so tun können, als würde das alles da draussen nicht existieren. Indem man das Elend auf der Bühne noch einmal existieren lässt und gemeinsam durchquert, geschieht eine Katharsis. Man hat sich gemeinsam darauf eingelassen, es dargestellt und hergestellt – übrigens auch als Zuschauer. Und dann fällt der Vorhang und man ist, zumindest für kurze Zeit, geläutert. Das ist für mich Theater.

 

«The Dark Ages», Hörspiel mit anschliessendem Gespräch. Samstag, 27. August, 16 Uhr, Schaulager, Ruchfeldstrasse 19, Münchenstein.
Am 1. September erscheint ausserdem eine Publikation zur Trilogie. 

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