Er dirigiert Barockopern am Theater Basel, Vivaldi-Programme bei den Berliner Philharmonikern und lädt nun mit Händels «Messiah» zum Mitsingkonzert ein. Ein Porträt des italienischen Musikers Andrea Marcon.
Basel, im Oktober 2012. Soeben ist im Grossen Saal des Theaters der letzte Ton von Georg Friedrich Händels Oper «Ariodante» verklungen. Tosender Applaus, minutenlang. Die Sänger verbeugen sich, bis der Dirigent bescheiden die Bühne betritt und mit den Händen zum Orchestergraben weist. «Bravo!», ruft es aus dem Publikum, immer wieder.
Später erzählt Andrea Marcon im Interview mit der TagesWoche gerührt von dieser Szene. Auch heute noch freut sich der 49-Jährige wie ein kleiner Junge, wenn die Instrumentalisten mit Extra-Applaus beschenkt werden. «Das Basler Publikum hat das Orchester wie einen Hauptdarsteller geehrt», sagt er – und rühmt die Sensibilität der hiesigen Zuschauer, die wissen, dass die Oper ohne ein gutes Orchester nur halb so viel Spass macht.
«La Cetra Barockorchester Basel» heisst das Ensemble, mit dem Marcon immer wieder am Theater Basel zu Gast ist. Es ist nicht «sein» Orchester, er sei lediglich künstlerischer Leiter, betont er. «Es ist wichtig für die Musiker, auch Impulse von anderen Dirigenten zu bekommen», sagt er. Wie es auch für ihn wichtig sei, mit anderen Orchestern zu arbeiten. «Man lernt immer dazu, egal, ob man selbst Konzerte gibt, unterrichtet oder dirigiert. Das ist das Schöne an meinem Beruf!»
Faszinierende Orgelklänge
Dass er mal Musiker werden würde, stand nie ausser Frage. Aber warum Alte Musik? «Ich hatte das Glück, in Treviso aufzuwachsen», erzählt der Italiener. «Die Stadt hat elf historische Orgeln. Ihr besonderer Klang hat mich total fasziniert, schon als Teenager durfte ich auf ihnen spielen. Der Reichtum an alten Instrumenten lockte viele hervorragende Musiker in die Stadt; Gustav Leonhardt gab oft Konzerte auf der Orgel und dem Cembalo.»
Leonhardt war es auch, der ihm Basel empfahl. So pilgerte Marcon als 17-Jähriger nach Arlesheim, um den berühmten Jean-Claude Zehnder zu hören und um zu erfahren, was es mit dieser Schule auf sich hat, von der er immer wieder las und hörte: Schola Cantorum Basiliensis. Hier studierte er, hier wurde er schliesslich Professor für Cembalo und Orgel.
Offene Atmosphäre
Was hat sich in Basel verändert seit seinen Studientagen? «Vor dreissig Jahren war die Stadt verschlossener», erinnert er sich. «Heute ist die Atmosphäre viel offener geworden. Die Menschen gehen mehr raus, flanieren. Am Wochenende trifft man sich auf der Piazza, wie in Italien!», sagt er und seine besonnene Stimme wird lebhaft. Man kann sich gut vorstellen, wie er in seiner Heimatstadt Treviso mit seiner Frau auf der Piazza flaniert, Espresso trinkt und mit den beiden erwachsenen Töchtern plaudert.
Doch als Musiker darf man nicht sesshaft sein. Und so hat Marcon eine Zweitwohnung in Basel. Hier kann er nach dem Unterrichten und Proben entspannen – und kochen, zum Beispiel Risotto, seine Lieblingsspeise. «Das sind besondere Momente der Ruhe – das anschliessende Essen natürlich auch», lacht er.
Aufregender Aufstieg
Viel Zeit zum Kochen bleibt ihm allerdings nicht. Er ist ein gefragter Dirigent. Was für ihn nicht selbstverständlich ist: «Dirigieren war immer ein Traum für mich – aber eben auch nur ein Traum. Ich fühlte mich lange Zeit nicht reif für diese grossen Partituren, für diese vielen Menschen, denen man in einem Orchester gegenübersteht. Ich habe lieber selbst mitgespielt.»
Heute nennt es Marcon einen Zufall, dass er zum Dirigieren kam. Eine Anfrage für ein Konzertprogramm in Venedig brachte vor 15 Jahren den Stein ins Rollen; gleich anschliessend durfte Marcon eine lange verschollene Barockoper von Francesco Cavalli aus der Taufe heben. «Das war aufregend – ich musste mir alles selbst beibringen», erinnert er sich.
Jetzt hat er es an die Spitze geschafft: Kürzlich wurde er von den Berliner Philharmonikern eingeladen, einem der besten Orchester der Welt. Darauf angesprochen, antwortet er gerührt und mit starkem italienischem Akzent: «Dort zu dirigieren ist eines der schönsten Geschenke, die ich in meinem Leben bekommen habe.»
Musik lebendig machen
Was reizt den Experten der historisch informierten Aufführungspraxis, ein modernes Orchester zu dirigieren, dessen Klangideale völlig andere sind? «Vor zwanzig Jahren waren dies tatsächlich zwei völlig getrennte Lager, man sprach nicht einmal miteinander», erzählt Marcon. «Heute ist das anders. Die Berliner Musiker sind unglaublich informiert, kennen von CD-Aufnahmen genau, was man mit alten Instrumenten alles machen kann. Sie wollen sich weiterbilden. Deshalb laden sie – wie viele andere moderne Orchester auch – immer wieder Dirigenten aus der Alte-Musik-Szene ein.»
Fr, 30.11., 19.30 Uhr, Stadtcasino Basel: Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium Thomas Hengelbrock, Balthasar-Neumann-Ensemble
Di, 4.12., 19.30 Uhr, Stadtkirche Liestal: Baselbieter Konzerte: Rajaton. Weihnachtlicher A-Cappella-Gesang aus Finnland
Sa, 8.12., 19.30 Uhr und So, 9.12., 17 Uhr, Predigerkirche, Totentanz 19, Basel: Bachkantaten in der Predigerkirche: BWV 61, 40 u.a. mit Maria Cristina Kiehr, Jörg-Andreas Boetticher
So, 9.12., Grosser Saal der Musik-Akademie Basel, Leohnhardstrasse 6, 11 Uhr: Familienkonzert: In dulci jubilo … von Engeln und ihren Instrumenten. Lehrerinnen und Lehrer der Schola Cantorum Basiliensis. Kommentar Lis Arbenz
So, 9.12., Festsaal im Landgasthof, Baselstrasse 38, Riehen, 19 Uhr: Classiques: Adventskonzert mit Werken von Vivaldi. Ensemble Zefiro. Giuliano Carmignola (Violine), Dorothee Oberlinger (Blockflöte)
Fr, 14.12., Münster, Basel, 17 Uhr: In dulci jubilo. Adventskonzert Knabenkantorei Basel
Fr, 14.12., Martinskirche, Martinskirchplatz 4, 20 Uhr: Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium Basler Bach-Chor, Capriccio Barockorchester, Joachim Krause
So, 16.12., Theodorskirche, Basel, 11 Uhr: Opern für zwei Gamben. Feuer und Bravour, galante Musik vom Berliner Hof, Jane Achtman, Irene Klein
So, 23.12., Münster, Basel, 18 Uhr: Weihnachtskonzert Capriccio Barockorchester. Basler Münsterkantorei, Solistinnen und Solisten. Werke von Mendelssohn
Doch was kann er den Berliner Philharmonikern vermitteln? «Wir hatten ein reines Vivaldi-Programm; damit sind die Berliner nicht sehr vertraut», erzählt Marcon. «Es geht grundsätzlich darum, Musik lebendig zu machen. Die Informationen, die wir aus Traktaten und historischen Quellen ziehen können, helfen uns, einen bestimmten Komponisten, eine Ästhetik besser zu begreifen. Sie können die Basis für unser Spiel sein – aber nicht das Ziel. Das Ziel ist, durch unsere Kenntnisse die Musik so zu spielen, dass es auch die Menschen beglückt!»
Und er sieht noch andere Parallelen: «Die Berliner sind fantastische Musiker, jeder Einzelne; aber was besonders ist: Sie bilden eine totale Einheit. Sie hören so wach aufeinander, wie ich es nur von kleinen Barock-ensembles kenne.» Etwa wie «La Cetra», das sich überwiegend aus ehemaligen Studierenden der Schola Cantorum zusammensetzt und das Marcon seit 2009 sehr erfolgreich leitet. Er öffnete dem Klangkörper nicht zuletzt die Türen zum grossen Plattenlabel Deutsche Grammophon, bei dem er selbst unter Exklusivvertrag steht. Drei CD-Aufnahmen konnte er dort schon mit «La Cetra» realisieren; zuletzt spielte das Orchester Barockarien mit der Sopranistin Patricia Petibon ein.
Weltweiter Vertrieb
Marcon erklärt, weshalb ein gutes Label wichtig ist: «Die Deutsche Grammophon vertreibt weltweit, man kann unsere CDs in Tokio, New York, Rom und Basel kaufen, sodass man überall auf den Namen La Cetra stossen wird. Diese Sichtbarkeit ist essentiell für ein freischaffendes Orchester.»
So kommt es, dass «La Cetra» im Dezember in Spanien spielt: Mitsingkonzerte mit Georg Friedrich Händels «Messiah». «Diese Konzerte sind schon ausverkauft – in Spanien hat das Mitsingen von ‹Messiah› eine grosse Tradition», erklärt Marcon.
Neben Orchester, Gesangssolisten und Berufschor wird das Publikum eingeladen, die Chorpartien mitzusingen. «Das ist eine unglaubliche Wirkung, wenn plötzlich 600 Leute ‹Halleluja› anstimmen!», berichtet er begeistert. Deshalb veranstaltet er am 9. Dezember auch in Basel erstmals einen Mitsing-Messias. Mitwirken darf, wer sich angemeldet und die Chorpartien zu Hause geübt hat, heisst es auf der Website des Orchesters. «In Spanien wird Monate geprobt», lacht Marcon, «wir glauben aber, die Basler können so gut Noten lesen, dass eine Probe ausreichen wird.»
Noch bis Freitag, 30. November, kann man sich anmelden; die Noten muss man selbst mitbringen. Dann hat man am 9. Dezember die Möglichkeit, mit Maestro Marcon den Messias zu proben – und abends im Stadtcasino aufzuführen. «Ich bin sicher, dass dadurch viele Menschen entdecken werden, wie schön das Singen ist.»
- Mitsingkonzert: So, 9.12., Stadtcasino, Basel, Steinenberg 14, 19 Uhr.
- Hier können Sie sich zum Mitsingen anmelden.
- Hier können Sie sich ein Konzertticket sichern.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30.11.12