«Murder Ballads»: Nick Caves blutgetränktes Meisterwerk

Das Liebeslied muss Wahnsinn, Gewalt und Obsessivität der Welt in sich aufnehmen, um Trost spenden zu können, glaubt Rockpoet Nick Cave. Vor 20 Jahren hat er mit «Murder Ballads» ein ganzes Album dem Mord und Totschlag gewidmet.

Popstar auf Zeit: Das Duett «Where The Wild Roses Grow» mit Kylie Minogue führte Nick Cave in die Charts. Doch wer sich das Album «Murder Ballads» wegen dieser Single kaufte, wurde kaum zum Stammkunden.

(Bild: Diimex)

Das Liebeslied muss Wahnsinn, Gewalt und Obsessivität der Welt in sich aufnehmen, um Trost spenden zu können, glaubt Rockpoet Nick Cave. Vor 20 Jahren hat er mit «Murder Ballads» ein ganzes Album dem Mord und Totschlag gewidmet.

Am Ende liegen sie erstochen in ihrem Blut, erwürgt in ihren Laken, erschlagen unten am Fluss, wo die wilden Rosen blühen. 65 Menschen verlieren im Verlauf dieser zehn «Murder Ballads» ihr Leben, gewaltsam, aber kaum einer bei einem Raub. Sie werden ermordet aus Liebe, aus Vergeltung oder aus der blossen Lust am Tode. Und aus der Einsicht, dass früher oder später sowieso jeder hinüber muss; Gott vergelts, warum also nicht früher.

Vom Tod hat Nick Cave immer wieder geschrieben, davor und danach, aber mit diesem Album machte er die Ballade zu seiner literarischen Form. Zuvor hat der Songwriter aus der australischen Wüste mit seiner früheren Band The Birthday Party einen explosiv-kaputten Sound des Voodoo-Jazz-Punk-Blues geschaffen.

Bei The Birthday Party und auch in den ersten zehn Jahren mit der Nachfolgeband The Bad Seeds hallte noch die dystopisch aufgeladene Kakophonie des Postpunk nach. Cave sang wie ein entflammter Prophet aus den alttestamentarischen Büchern der Väter von Zorn und Zerstörung, die über die verkommene Welt hinwegfegen würden. «In jungen Jahren glaubte ich an Gott – und zwar an einen bösartigen Gott», schrieb Cave in seiner Einleitung zum Evangelium nach Markus.

An einen Gott, der rachsüchtig die Menschen plage und das Böse in sie hineinpflanze, auf dass sie sich gegenseitig zerfleischen. «Aber man wird älter. Man lernt zu vergeben, sich selbst und der Welt.» Nick Cave entdeckte Christus, nicht den anbetungswürdigen, gottgleichen Menschensohn, sondern den Christus nach Markus, der die Menschheit aus ihrer Leere reissen wollte und dafür ans Kreuz geschlagen wurde. Da wandelte sich Caves Ton. «Christus verstand, dass unsere Mediokrität uns als Menschen für immer am Boden festhalten würde, und durch sein Beispiel gab er unserer Vorstellungskraft die Freiheit zu fliegen», schloss er seinen Evangelienkommentar.

Verloren im Strom von Verlangen und Schmerz

Man muss die Gewaltfantasien, die Cave in seinen Balladen von der Kette lässt, vor diesem Hintergrund hören: Als literarische Form steht die Ballade den kollektiven Erzählungen nahe, den Mythen und Ammenmärchen. Caves Lieder sind voll solcher Untertöne, sie arbeiten mit Bibel- und Legendenanklängen, lassen Figuren wie das Mädchen Loretta auftreten, das eine ganze Stadt umbringt, oder die arme Mary Bellows, die nur einmal den Ozean sehen möchte, dann jedoch an den falschen Mann gerät. Figuren, Mörder wie Opfer, die sich im Strom von Verlangen und Schmerz verlieren, ohne dass einer sich dagegen stemmen kann.

«All God’s children they have to die», singt Bänkelsänger Cave im Schwung eines Volksfestes, als riefe Gevatter Tod selbst zum Tanz. Die Vorstellungskraft, der seine archaischen Figuren entsprungen sind, die Rekurse auf die Bibel, die britische Gothic Novel, auf Miltons «Das verlorene Paradies», auf den Groschenroman ebenso wie auf den Sagenschatz der Alten – sie suggerieren eine Literatur, die der armen menschlichen Seele Geborgenheit geben soll.

Lovesongs an den Gestaden der Gewalt

An der Wiener Schule für Dichtung hielt Cave einst zwei Vorlesungsreihen über das Liebeslied, folgend dem Grundsatz, dass auch der melancholische Lovesong herangeworfen werden müsse an die Gestade des Absurden, des Obsessiven, des Wahnsinnigen – und nicht zuletzt der (sexuellen) Gewalt und der Ironie.

Die «Murder Ballads» folgen diesem Diktum: Neun Lieder lang lässt uns Cave an seinen Gewaltfantasien teilhaben, während die Bad Seeds im Hintergrund eine wunderbar gespenstische Soundkulisse schaffen – um zum Schluss einen versöhnlichen Schlusspunkt zu setzen. «Death is not the end», heisst es da, der Chor trällert engelsgleich, Cave raunt zärtlich wie der liebe Gott anstelle eines Heroldes der Hölle. Und das Stück – im Original von Bob Dylan – klingt aus, ohne, dass Blut vergossen wurde.

«The tree of life is growing where the spirit never dies», singt Cave. Die Menschen sind nicht verloren, solange sie etwas zu erzählen haben. Auch wenn es Mörderballaden sind.

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