Nackte Wahrheiten

Um 1900 liebten es Künstler wie Pierre Bonnard, Frauenakte im Badezimmer zu malen. Die Szenerie diente als Vorwand, um die Prüderie der Epoche zu umgehen.

Einer von vielen Badezimmerakten Pierre Bonnards: «Le Cabinet de toilette au canapé rose (Nu à contre-jour)» aus dem Jahr 1908. (Bild: © Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, © )

Um 1900 liebten es Künstler wie Pierre Bonnard, Frauenakte im Badezimmer zu malen. Die Szenerie diente als Vorwand, um die Prüderie der Epoche zu umgehen.

Sechs Zimmer wird die Fondation Beyeler zur intimen Bonnard-Retro­spektive einrichten. Sechs Zimmer, die sich sechs wichtigen Sujets im Œuvre des französischen Koloristen widmen. Zwei davon werden tatsächlich existierende Räume umreissen – das Ess- und das Badezimmer. Während der «Salle à manger» Pierre Bonnard (1867–1947) die Möglichkeit bot, einen oft humorvollen Blick auf das bürgerliche Interieur zu werfen, indem er den Menschen in den Hintergrund rückte und den Fokus auf stilllebenartig inszenierte Tische legte, gab das Bad den Anlass zu seinem liebsten Motiv: dem weiblichen Akt.

Zahlreiche Werke von grosser Intimität zeugen vor allem nach 1900 davon, dass der weibliche Körper dem Maler keine Ruhe liess. Das Badezimmer in seiner Villa im südfranzösischen Le Cannet liess er an die sonnigste, hellste Stelle des Hauses bauen. Es verfügte über ein Fenster, einen kleinen Balkon, eine Badewanne und ein kleines Lavabo. Vielleicht war es der Wunsch seiner Frau Marthe, die viel Wert auf ihre Körperpflege legte und diese gern in angenehmem Ambiente verrichtete, die ihn diesen Standort wählen liess – doch auch Pierre Bonnard hatte seine Freude daran, war es ihm doch wichtig, dass er vom Frühstückstisch aus ins Bad sehen konnte. Macht dies den Maler zum Voyeur?

Verbotene Erotik

Damen beim An- und Auskleiden zu zeigen, ist für Künstler ein seit jeher beliebter Anlass für die öffentliche Darstellung weiblicher Nacktheit. Die Pose des Modells ist dabei fast ebenso aufschlussreich wie die Nacktheit selbst, und erotische Komponenten spielen hier sicher eine mindestens ebenso grosse Rolle wie das Interesse des Malers an den Bewegungsabläufen des nackten Körpers.

In der klassischen griechischen Kunst der Antike gehörte der unbekleidete Mensch zum Kunstkanon. Die Körper wurden idealisiert dargestellt, sie wurden zum Bild absoluter Vollkommenheit. Nacktheit und gar Sexszenen durften als Wandmalereien Häuser zieren oder auf Vasen abgebildet werden. Diese scheinbare Natürlichkeit und erotische Präsenz der antiken Aktdarstellungen wurde im Mittelalter unvereinbar mit der stärker werdenden christlichen Religion, die kein Abbild von Gott und seiner Schöpfung zulassen wollte.
Das Christentum drängte die als sündig empfundene Nacktheit in ein Versteck, aus dem sie jahrhundertelang nur unter dem Deckmantel der Bibel­illustration, der Historie oder der Mythologie hervorgeholt werden durfte: Zwar durfte Eva, wie Gott sie soeben erschaffen hatte, neben dem genauso unbekleideten Adam stehen, und Venus schälte sich nackt aus ihrer Muschelschale. Mit Naturgenauigkeit aber hatten diese Darstellungen über lange Zeit bewusst nichts zu tun.

Erst mit der beginnenden Erforschung des Menschen im Sinne neuzeitlicher Naturwissenschaft in der Renaissance wurde die Darstellung des Menschen lebensnäher, wenn auch wieder idealisiert wie in antiken Zeiten. Doch etwas blieb: Schamhaar wurde zum Ornament, wo immer möglich durch ein Zweiglein oder Feigenblatt verdeckt oder gar nicht abgebildet. Und die alltägliche Frau? Sie hatte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein schamvoll hinter dicken Kleiderschichten, ­grossen Tüchern oder Decken verborgen zu bleiben.

Neckischer Kunstgriff

Was lag also für die Künstler näher, als eine Ausrede zu suchen, um doch nackte Frauen zu malen? Wenn die alttestamentarische Bathseba, die Mutter König Salomos von Israel, sich ohne Kleider im Bade auf ihren Besuch bei König David vorbereiten durfte und unbestritten anerkannte Künstler wie Rembrandt van Rjin das um 1654 ungestraft auf die Leinwand bannen konnten, dann durften die Maler des 19. Jahrhunderts davon ausgehen, dass an einer sich im Badezimmer waschenden Frau ebenfalls nichts Anstössiges sein konnte.

Frechheit siegt, der Kunstgriff funktionierte. 1865 noch war es, als Edouard Manet mit seiner «Olympia» die Pariser Salongesellschaft aufschreckte. Als «verrucht» betitelte man die Frau, die sich dem Betrachter nackt auf einem Sofa präsentierte, weil sie nicht idealisiert, sondern lebensnah und kompromisslos dargestellt wurde. Venus wurde hier zu einer Prostituierten, die mit ihrem Blick den Betrachter herausfordert.

Nur ein Jahr nach Manet schockte Gustave Courbet das Pariser Publikum mit seinem Gemälde «L’Origine du Monde» – einer fotografisch genauen und naturwissenschaftlich präzisen Darstellung des weiblichen Geschlechts. Courbet hatte den Tabubruch begangen: Er hatte den weiblichen Akt aus seinem Kontext gelöst und nichts als die nackte Wahrheit gemalt. Das Gemälde provozierte Verbote, Empörung und Zensur.

Nackte Frauen, die gefielen

Nur wenige Jahre nach diesen Skandalen begannen Künstler wie Pierre-Auguste Renoir oder Edgar Degas damit, weibliche Modelle zu porträtieren, die baden, sich waschen, abtrocknen oder frisieren. Sie setzten das weibliche Modell mit Erfolg zurück in seinen Kontext. Die explizite Zurschaustellung der Geschlechtsteile einer Frau mit gespreizten Beinen durch Courbet ging der Bourgeoisie deutlich zu weit – die nackten Frauen aber, die ihre alltägliche Toilette verrichteten, waren dem Publikum genehm.

Verschlossene Türen

Der Unterschied zwischen Courbets unpersönlicher Darstellung eines Frauentorsos und Degas’ (oder auch Bonnards) Akten ist wohl ähnlich gelagert wie jener zwischen Pornografie und erotischen Bildern: Courbets «L’Origine du Monde» fokussiert auf den gesichtslosen Frauenkörper, Degas und Bonnard betten den Körper in einen anscheinend unverfänglichen Kontext ein. Objekt bleibt die Frau in beiden Fällen. «Es ist, als ob man durch ein Schlüsselloch guckt», sagte Degas einst über seine Akte, womit er die voyeuristische Absicht selbst in Worte kleidet. Durch ein Schlüsselloch guckt, wer nicht gesehen werden, aber sehen will. Auch Sexualität spielt sich hinter verschlossenen Türen ab. Bilder, die nur Andeutungen in diese Richtung machen, sind deshalb meist eher in der Lage, die Imagination anzuregen als konkrete Visualisierungen.

Bonnard schaute seinen Modellen gerne zu. Er liess sie nicht stillsitzen, sondern herumlaufen, um die Bewegung einzufangen. Und er beobachtete genau. In einigen seiner Bilder setzt er sich zudem selbst diskret in Szene: In «Nu dans la baignoire» etwa erscheint er als männliche Silhouette, in «Le Grand Nu bleu» erinnert ein angewinkeltes Knie am linken unteren Bildrand an seine Präsenz. Durch den ins Bild gerückten männlichen Gegenpart erhalten die ansonsten zurückhaltend beobachteten Szenen ein deutlich sexuell konnotiertes Element.

Besessen von der Farbe

Trotzdem darf man Bonnard und seinen vielen badende Frauen malenden Kollegen wohl nicht nur erotische Motivation unterstellen. Bonnard war besessen von der Malerei, er war besessen von Farbe und deren Wirkung. Mehrere seiner Gemälde zeigen Frauen, die reglos in der Badewanne liegen, ihr Körper umspült von klarem Wasser. Der ­Voyeur hat sich hier in sein künstlerisches Innerstes zurückgezogen: Der Blick des Malers konzentrierte sich weniger auf die Rundungen des Modells als auf die Farbveränderungen und ­Reflexe, die das sich im Wasser brechende Licht hervorruft. Seine gros­sen Badewannenakte sind der Triumph von Farbe gewordenem Licht; man darf sie als Höhepunkt seines Schaffens bezeichnen.

Die Bonnard-Ausstellung in der Fondation Beyeler wird am Sonntag, 29. Januar, eröffnet und läuft bis zum 13. Mai 2012.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.01.12

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