Nischen im globalen Markt

In der Schweiz ist die Zahl der Musiklabels in den vergangenen Jahren rasant gewachsen. Dank digitalen Netzwerken und Verkaufsportalen sind die Hürden für den Markteintritt für Musikproduzenten deutlich gefallen. Ein Vorteil für Nischenprodukte – sofern sie über das Know-how und ein stabiles Netzwerk verfügen.

Two Gentlemen, A Tree In A Field und N-Gage stehen für eine vielfältige Schweizer Labellandschaft. (Bild: Nils Fisch)

In der Schweiz ist die Zahl der Musiklabels in den vergangenen Jahren rasant gewachsen. Dank digitalen Netzwerken und Verkaufsportalen sind die Hürden für den Markteintritt für Musikproduzenten deutlich gefallen. Ein Vorteil für Nischenprodukte – sofern sie über das Know-how und ein stabiles Netzwerk verfügen.

Immer mehr ­Labels teilen sich immer weniger Umsatz.

Vor drei Jahren begegnete Marlon McNeill an einem Abend in der Bosch-Bar in Zürich dem jungen Swamp-Blues-Musiker Fai Baba. Fai Baba, Zürcher und Versprechen der Schweizer Indie-Szene mit einem Hunger, der ihn von Anfang an über die Landesgrenze hinaustrieb, stand vor der Fertigstellung seines ersten ­Albums. McNeill, Basler, führte seit mehreren Jahren in Basel das Musik­label A Tree in a Field Records, eine Adresse für experimentellen Rock mit wachsender Professionalität, jedoch noch ohne internationale Vertriebs­partner. McNeill wollte einen Namen mit entsprechendem Potenzial im Portfolio. Er fragte Fai Baba an.

Dieser fragte zurück, was McNeill ihm bieten könne. Er antwortete: «Vernetzung, Booking, Pressearbeit, gezielte Promotion – das 360-Grad-Programm.» Fai Baba sagte zu, die Kanäle begannen sich zu öffnen.

A Tree in a Field Records verfügt mittlerweile über Vertriebspartner in Deutschland, England, den USA und den Benelux-Ländern, die die Ver-öffentlichungen in die Läden und ­Medien bringen. Verkauft sich das? Zahlen hat McNeill keine zur Hand, denn der Musikverkauf ist nicht mehr das alleinige Kerngeschäft. Nicht für A Tree in a Field Records, ebensowenig für die Mehrheit der Schweizer Musiklabels.

Weniger Umsatz, mehr Akteure

Dem hiesigen Musikmarkt geht es schlecht, und das seit Jahren. Zur Jahrtausendwende setzten die Labels noch über 300 Millionen Franken um, 2012 ist gerade ein Drittel davon geblieben: 104,8 Millionen, teilte der Branchenverband der Musiklabels (Ifpi) mit. Ein Rückgang von über 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Ein starkes Wachstum gibt es dennoch im Schweizer Musikmarkt – nicht in Franken, jedoch in Akteuren. Rund 100 Mitglieder im Tonträgersektor zählte die Verwertungsgesellschaft Swissperform, bei der die Produzenten registriert sind, vor zehn Jahren. 2012 sind es 305. Die Zahl hat sich verdreifacht, wie Swissperform-Direktor Poto Wegener bestätigt.

Immer mehr Labels, die sich immer weniger Umsatz teilen – wie geht das auf? «Die Zahl sagt nichts aus über den Geschäftsgang», sagt Wegener, «grösstenteils ist dieser sehr tief. Aber es ist heute sehr viel einfacher, ein Label zu gründen.» Möglich gemacht hat das die technische Entwicklung der letzten Jahre: Dank digitalen Aufnahmemöglichkeiten ist eine Albumproduktion vergleichsweise billig zu haben, das MP3-Format ersetzt die teure Pressung von Schallplatten und CDs, Download­shops wie iTunes ersparen den Versand in die Platten­läden oder direkt zum Kunden, soziale­ Netzwerke wie Facebook, Youtube und Spotify öffnen Werbekanäle, durch die man mittels globaler ­Vernetzung und präzise umrissenen Nutzerprofilen direkt die potenzielle Fanbasis ansteuern kann. Klein- und Kleinstlabels sind nicht mehr auf die Strukturen der althergebrachten Musikindustrie angewiesen. Zumindest in der Theorie.

360-Grad-Modelle

Die Praxis sieht anders aus, weiss Marlon McNeill. Vor zehn Jahren hat er, der auch als Programmmacher im «Hirscheneck» amtet, A Tree in a Field Records gegründet, «total blauäugig» und mit der Absicht, Abnehmer für seine eigene Musik zu finden. Momentan erlebt die Ein-Mann-Firma ihre aktivste Zeit mit sechs Veröffentlichungen innert eines halben Jahres. 

«Die Musik auf meinem Label repräsentiert noch immer meinen Geschmack», sagt McNeill, aber sonst hat sich einiges geändert. Die Labeltätigkeit hat er ausgebaut, er akquiriert nicht nur Bands und veröffentlicht ihre Musik, sondern kümmert sich auch um das Booking, sorgt für Promotion, arbeitet sich in die Verlagstätigkeit ein, um die Musik auch für andere Zwecke verkaufen zu können, Filmsoundtracks beispielsweise. «Die wichtigste Ressource ist nicht die Präsenz auf den sozialen Netzwerken und auch nicht Geld, obwohl man das immer brauchen kann, sondern Erfahrung», sagt McNeill. Alben lässt er weiterhin pressen, vor allem Vinyl, «Musikliebhaber schätzen das», der Downloadverkauf sei in seinem Segment hingegen eine vernachlässigbare Grösse. Verkauft werden die Platten grösstenteils ausserhalb der Tonträgerindustrie – an den Konzerten, direkt von den Musikern.

Immer mehr Labels teilen sich immer weniger Umsatz. 

Auf das 360-Grad-Modell setzen auch andere Labels. Raymond Tschui, Geschäftsführer des Labels N-Gage Productions in Liestal, hat mit dem Reggae-Sänger Famara zwar noch immer einen Namen im Angebot, der auch mal 3000 Exemplare eines Albums im Handel absetzt, «was viel ist für ein kleines Label». Dennoch sind die Verkäufe eingebrochen und werden durch die Download-Zahlen «nie und nimmer» kompensiert. «Heute hört man Musik über Youtube oder Spotify», sagt Tschui. Das tue er auch, sein Verhältnis zu diesen Plattformen ist dennoch ambivalent. «Wer sich gut vernetzt, kann viele Hörer erreichen. Aber die werden nicht automatisch zu Käufern.» Nur dank den Einkommen aus dem Verlagsgeschäft «musste ich den Laden noch nicht schliessen». 

Das Durchhaltevermögen von Tschui und McNeill wurde auch schon honoriert: Beide haben den mit 12 000 Franken dotierten Basler Rockförderpreis «Business Support» erhalten.

Netzwerken ohne Facebook

Noch weiter entwickelt hat die Rundumbetreuung das Lausanner Label Two Gentlemen. Auch bei diesem sind die physischen Verkäufe noch immer doppelt so hoch wie die digitalen, ist zu erfahren. Das Format aber ist zweitrangig. «Wir produzieren Musik, nicht Tonträgerklassen», sagt Co-Geschäftsführer Christian Fighera­. Und das tun Two Gentlemen intensiv: Sie kümmern sich nicht nur um die Aufnahmen ihrer Musiker, sondern auch um die Tourneen – und steigen gleich in den Tourbus mit ein.

«An rund hundert Tagen im Jahr bin ich oder mein Co-Leiter mit den Musikern unterwegs. So treffen wir unsere Partner, pflegen unser Netzwerk.» Ohne gezielt auf Social Media gesetzt zu haben. «Facebook dient der schnellen Informationsverbreitung. Das ist schön. Wichtiger aber ist der Inhalt», sagt Christian Fighera von Two Gentlemen.

Auch Fighera, der seit 15 Jahren Label­arbeit verrichtet, registriert, dass die Zahl der Labels gerade in den Nischensektoren enorm gewachsen ist. «Erstaunlich ist das nicht. Musik zu produzieren ist viel einfacher und billiger geworden. Es geht das ­Gerücht um, via digitale Medien und digitalen Verkauf könne man schnelle Erfolge schaffen. Ein Irrtum», sagt Fighera. «Die Einzigen, die damit Erfolg haben, sind Apple.»

Globalisierter Markt

Allerdings hat der digitale und global erschlossene Markt auch einen grundsätzlich positiven Effekt für kleine Labels, sagt Philipp Schnyder von Wartensee, der Festivalleiter des Branchentreffs m4music: «Der Vorteil der Digitalisierung für kleine Länder und kleine Strukturen ist, dass sie sofort in den internationalen Verkauf einsteigen können. Früher war man auf Vertriebspartner in den jeweiligen Ländern angewiesen.» Dies bedingte gegenseitig eine ­bestimmte Grösse: vom Vertrieb, dass er die Läden eines Landes flächen­deckend beliefert, und von der Musikfirma, um ein entsprechendes Verkaufspotenzial zu erreichen.

«Die Investition, die für ein solches Wachstum notwendig wäre, kann heute in die Werbung gesteckt werden. Und die läuft nicht mehr entlang nationaler Grenzen, sondern entlang der Nischen, Szenen und Netzwerke.»

Für Nischenlabels überwiegen somit die Vorteile, sagt Schnyder, und dieser Entwicklung folgt auch der Förder­gedanke des Migros-Kulturprozents: Seit 2006 unterstützt dieses nicht nur ­Musiker, sondern auch Musik­labels. «Dabei favorisieren wir Labels, die sich in einem konkreten Genre spezialisieren. Die stilistische Eingrenzung führt zu einer profilierten Identität – und ohne diese hebt man sich kaum aus der Masse heraus.»
 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26.04.13

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