Neneh Cherry gastierte in Karlsruhe: Die Schwedin findet mit «The Thing» zurück zu ihren Wurzeln zwischen Freejazz und Punk.
«Wir hatten ein schönes Picknick auf dem Gleis 6 des Frankfurter Hauptbahnhofs.» Neneh Cherry ist noch zum Scherzen aufgelegt, auch wenn sie sich einen Eisbeutel auf das dick geschwollene Knie pressen muss. Mit Verspätung kam sie von Holland an, der Anschluss fuhr ihr vor der Nase weg. Und beim Umherhetzen hat sie sich dann sehr schmerzhaft das Bein angeschlagen. So humpelt sie jetzt im Backstagebereich des Karlsruher Tollhauses herum, wo sie mit ihrem neuen Projekt eines der ganz wenigen Konzerte im deutschsprachigen Raum geben wird. Der lang vereinbarte Interviewwunsch ist auch nicht zu ihr durchgedrungen. Trotzdem nimmt sich die 48-Jährige für ein paar wenige Minuten Zeit zum Gespräch.
Das passt, denkt man, denn der Name Neneh Cherry stand immer für Spontaneität. Jeder hat noch im Ohr, wie sie Ende der Achtziger mit «Buffalo Stance» und «Manchild» die HipHop-Parameter kräftig durcheinander schüttelte. Wie sie ein paar Jahre später mit dem jetzigen Kulturminister des Senegals, Youssou N’Dour, mit «Seven Seconds» ein wenig Ethnopop-Flair in buchstäblich jede TV-Show brachte. Neneh Cherry war eine stets erfrischende Erscheinung im Popzirkus, die sich vor 20 Jahren mit ihrer frechen Stimme und ihrem unbekümmerten Auftreten in jede musikalische Sozialisation eingebrannt hat – ob man ihren Sound nun mochte oder nicht. Doch nach drei Alben wurde es eher still um die dreifache Mutter. Gelegentliche Teamworks, etwa mit Peter Gabriel, den Gorillaz oder der Groove Armada, und ein ruhiges Lo-Fi-Album mit der Familienband cirKus, deren angekündigter Auftritt in der Basler Kaserne 2007 gecancelt wurde – das war auch schon im wesentlichen die Ausbeute der letzten fünfzehn Jahre.
Starker Tobak
Wie aus dem Nichts kehrt sie nun zurück, und das mit starkem Tobak: Als Partner für ihre neue Platte hat sie sich das schwedisch-norwegische Trio The Thing ausgesucht, beinharte Gesellen zwischen Free Jazz und Punk. Doch so abwegig ist das Teamwork nicht, wenn man ein wenig in Cherrys Biographie eintaucht: «The Thing haben eine starke Verbindung zu meinen Wurzeln, zu meiner eigenen musikalischen Reise. Eine Menge Leute bringen mich nur mit meinen Popsongs in Verbindung. Aber ich bin ja in einem Jazzhaushalt gross geworden, wo auch eine Menge andere Musik gehört wurde», erzählt sie.
Als Tochter eines sierraleonischen Drummers und einer schwedischen Künstlerin geboren, wird schon in Kleinkindjahren Stiefvater Don Cherry zu ihrer musikalischen Orientierungsmarke. Der Free Jazz- und Worldmusic-Pionier beschert ihr ein Leben auf dem ganzen Globus, zwischen New York, L.A. und schwedischen Wäldern, und mit jeder Menge musikalischer Konzepte. Sie wählt zunächst ihr eigenes: Mit der anarchischen Mädchenband The Slits und der Postpunk-Truppe Rip, Rig & Panic mischt sie schon als Teenagerin die Szene auf, bevor ihr Debüt «Raw Like Sushi» sie dann in den Mainstreamolymp träg. «Vom Sound und dem Lebensgefühl von Rip, Rig & Panic schliesst sich in gewisser Weise jetzt ein Kreis zum aktuellen Projekt», so Cherry. «Aber andererseits katapultiert es mich auch in eine neue Welt!» Der Kontakt zum Saxophonisten Mats Gustafsson und seinen beiden Mitstreitern Ingebrigt Håker Flaten (Bass) und Paul Nilssen-Love (Drums) wurde 2010 über einen Freund ihres Mannes eingefädelt.
Jagdhund und Kaninchen
«Mittlerweile sehe ich diese Begegnung als etwas, was einfach im Universum auf mich wartete, etwas, was passieren musste», so Cherrys Einschätzung. «Kurz nach unserem Aufeinandertreffen sind wir sofort zu einem Quartett mit einem kompakten Bandsound verschmolzen. Die Aufnahmen zur Platte ‚The Cherry Thing‘ haben wir im wesentlichen in vier Tagen in Stockholm gemacht, und das wars! Unsere Musik entstand ganz natürlich, ohne manipulativen Zwang, ohne Anstrengung. Es half vielleicht, dass ich ja eigentlich keine Sängerin mit grossartiger Technik bin – ich konnte ganz direkt auf ihren Sound ansprechen.» Und bevor sie dann zum Soundcheck muss, gebraucht sie noch ein schönes Bild: «Ich fühlte mich, als wäre ich ein Jagdhund, und die Jungs hätten mir ein Kaninchen vorgesetzt!»
Orgiastisches Tosen
Später am Abend auf der Bühne ist diese fast animalische Energie dann auch in förmlich jedem Takt zu spüren. Es tost orgiastisch aus Mats Gustafssons Baritonsax, es brodelt im herumkletternden Bass von Flaten, die Drums von Nilssen-Love explodieren muskulös – und dennoch findet hier kein typischer Free Jazz statt. Fast alle Stücke starten songhaft mit ruhig kreisenden Ostinati, die sich in einer atemberaubenden Dramaturgie ins Ekstatische steigern. Mit insistierendem Drang und lustvollen Wiederholungen gibt Neneh Cherry «Dream Baby Dream», im Original von der Electropunkern Suicide, gewaltig scheppernd zelebrieren sie und ihre drei Kollegen «Dirt» von den Stooges.
Starke Spoken Word-Kunst gibt es in «Accordion» des HipHoppers MF Doom, und mit der Eigenkomposition «Cashback» ist, trotz sperriger Umgebung, fast ein Ohrwurm gelungen. Einen Gänsehautmoment gibt es auch: «Golden Dream» ist eine orientalisch anmutende, psychedelisch verhallte Hommage an Stiefvater Don Cherry. Der 48-Jährigen ist auf der Bühne ihr Alter kaum anzumerken: Da sind sie immer noch, die herausgestoßenen Shouts, der frech-anarchische Stimmencharme und die erdigen, wedelnden Tanzbewegungen – all ihre Tugenden der Achtziger, sie hat sie vom Pop gekonnt auf diesen musikalischen Hochofen übertragen. Neneh Cherry im Jahre 2012 ist definitiv noch roher als Sushi.