«Polder» schwebt zwischen Genialität und Grössenwahn

«Polder» ist nichts für schwache Nerven – der Kinobesucher darf sich auf viel Blut und eine hochkomplexe Handlung einstellen. Doch bevor er es sich im Kinosessel gemütlich machen kann, muss er selbst aktiv werden.

Fröhliche Fantasy-Familie: Marcus, Ryuko und Walterli.

(Bild: Filmcoopi Zürich AG)

«Polder» ist nichts für schwache Nerven – der Kinobesucher darf sich auf viel Blut und eine hochkomplexe Handlung einstellen. Doch bevor er es sich im Kinosessel gemütlich machen kann, muss er selbst aktiv werden.

Filme können die persönliche Wahrnehmung auf den Kopf stellen. Sie können ihr Publikum schockieren, verwirren, ja völlig aus dem Konzept bringen. «Polder» löst genau diesen Zustand aus – und das bevor er überhaupt anfängt. Schuld daran ist eine männliche, nervöse Erzählerstimme, die den Zuschauer per App auf einen gruseligen Spaziergang einlädt.

Sagenumwobene Erzählungen und geheimnisvolle Musik lassen den Zuschauer in die fantastische Filmwelt eintauchen. Den Film-bezogenen Audiowalk gibt es für verschiedene Kinostandorte, auf die er sich direkt bezieht. So wird der Garten um die Ecke zum Treffpunkt unheimlicher Fantasy-Figuren und die unscheinbare Kritzelei am Fensterrahmen zum mysteriösen Hinweis.

Man wird mitgerissen, hört Regen, den es nicht gibt, und sieht Verfolger, obwohl man ganz alleine ist. Und später versinkt man dann voller Unbehagen und leicht verwirrt im Kinosessel und fragt sich: Was war das?

Polder-Zuschauer in Zürich folgen während des Audiowalks den Anweisungen des Erzählers.

Polder-Zuschauer in Zürich folgen während des Audiowalks den Anweisungen des Erzählers. (Bild: Filmcoopi Zürich AG)

Transmediale Überforderung

«Polder» hat sich ziemlich viel vorgenommen: Es handelt sich nämlich nicht nur um einen Film, sondern um ein transmediales Projekt. Das heisst, es gibt mehrere Geschichten und mehrere mediale Zugänge, die sich alle um dasselbe narrative Zentrum, ein sogenanntes «story universe», drehen.

Bereits 2009 begann die Künstlergruppe 400asa parallel zum Film «Polder» mit der Arbeit an einem «Alternate Reality Game» – ein Spiel, bei dem die Grenze zwischen fiktiven und realen Erlebnissen verwischt wird. Ursprünglich waren zwei unabhängige Projekte geplant – daraus wurde dann ein grosses und fortlaufend wachsendes «Polder»-Projekt. Mittlerweile bietet die App mehrere Audiowalks, Spiele und zu ausgewählten Zeitpunkten sogar reale Begegnungen mit den Figuren an.

Dieses Jahr kommt nun ein weiteres Puzzlestück auf den Markt: der «Polder»-Film von den 400asa-Mitgliedern und Regisseuren Samuel Schwarz und Julian M. Grünthal. Dazu gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Da jede Plattform eigenständig ist, kann man App und Alternate Reality Game getrost weglassen und sich auf den Film konzentrieren.

Die schlechte: Auch unabhängig von medialen Zusatzmitteln ist der Film eine Überforderung.



Game-Entwickler Marcus spricht mit seinem Sohn Walterli

Game-Entwickler Marcus spricht mit seinem Sohn Walterli (Bild: Filmcoopi Zürich AG)

Alles beginnt mit einer computerisierten Stimme, die sich als das virtuelle Ich von Marcus, dem Chief Development Manager der Game-Entwickler-Firma NEUROO-X, vorstellt. Dieser verliert sich in seinem selbst entwickelten Game. Über knifflige Rätsel und Suchspiele schafft es seine Frau Ryuko, das Passwort seines Computers zu knacken, um ebenfalls ins Spiel einzutauchen.

Viele Wirklichkeiten und noch mehr Blut

Als auch noch der gemeinsame Sohn Walterli im Spiel verschwindet und später nicht mehr mit der Realität klarkommt, beginnen sich Wahrheit und Fantasie immer mehr zu vermischen. Mehrmals wird der Zuschauer von einer Realitätsebene in die nächste katapultiert – man versteht nie so ganz, in welcher der vielen Wirklichkeiten man sich gerade befindet.

Das ist zwar eine wunderbare Voraussetzung, um sich mit den Figuren zu identifizieren – diese sind nämlich genauso verloren –,  macht es aber auch extrem schwierig, der Handlung zu folgen. Kaum glaubt man, etwas begriffen zu haben, fällt man aus allen Wolken und muss wieder bei Null anfangen.



Die Realität ist grau und trist...

Die Realität ist grau und trist… (Bild: Filmcoopi Zürich AG)

Auf der visuellen Ebene passiert alles Erdenkliche: Mal ist die Kameraführung verwackelt, mal statisch. Die Figuren bewegen sich teils roboterartig wie in einem Computergame, mal ganz menschlich. Blutströme fliessen, Kinderaugen werden zerstochen, Menschen sterben. Kurz: In diesem Film gehts ab.

Farbige und abstruse Gamer-Welt

Auch thematisch versucht der Film vieles unter einen Hut zu bringen. Der Titel bezieht sich auf eines der behandelten Themen: Laut John Clutes, Autor der «Fantasy-Enzyklopädie», ist ein Polder «eine Enklave verdichteter Wirklichkeit, die durch magische Grenzen von der umgebenden Welt getrennt ist».



... aber die Gamer-Welt ist farbig und schön.

… aber die Gamer-Welt ist farbig und schön. (Bild: Filmcoopi Zürich AG)

Dieses komplexe Thema wird einfach, aber geschickt verbildlicht: Marcus, Ryuko und Walterli werden in der Gamer-Realität als glückliche Familie vereint. Um ihr Glück nicht zu zerstören, werden sie von sogenannten Avataren vor der Realität beschützt. Denn diese ist grau und kühl.

In der Gamer-Welt jedoch können die drei in pastellfarbenen Retro-Kleidern über pittoreske Alpenlandschaften hüpfen. Die triste Realität und die farbige Gamer-Welt zeigen, was wir alle wissen: Manchmal ist das virtuelle Social-Media-Paradies oder das Netflix-Schlaraffenland einfach viel schöner, toller und unkomplizierter als das reale Leben.

Die Frauenfiguren jedoch, die laut Samuel Schwarz stark und selbstständig dargestellt werden sollen, irritieren: In der verzweifelten Suche nach ihrem Sohn Walterli erfährt Ryuko, dass sie nur in Marcus‘ Fantasie existiert. Das soll ihre erotischen Züge erklären: «Du bist eine Figur, die ich erfunden habe, also entsprichst du meinen Vorstellungen», erläutert Marcus.

Auch die restlichen Frauen der Gamer-Welt sind entweder verführerische Kampflesben oder erotische Monster. Die wirklich starken Frauen sind wohl in der Realität hängen geblieben.

Viele Figuren und Szenen sind überspitzt und unter der Gürtellinie. Diesen Mut muss man den Filmemachern hoch anrechnen. Aber der Fantasy-Streifen mit Swissness-Touch und Japan-Flair schwankt zwischen Genialität und Grössenwahn. Risikobereitschaft in allen Ehren: Als Zuschauer verliert man irgendwo zwischen blutrünstigen Fantasy-Hexen und durchgeknallten Game-Entwicklern den Faden. Wenn der Abspann über die Leinwand läuft, ist man genauso wenn nicht noch verwirrter als zuvor.

Vielleicht ist die Ratlosigkeit Teil des Konzepts. Sollte das der Fall sein, ziehe ich vor den «Polder»-Machern den Hut.


 
«Polder»: Premiere im Stadtkino Basel, Theaterstrasse 22 Basel, Donnerstag 15. September, 21 Uhr. Wichtig: Smartphone mitnehmen und Polder-App herunterladen

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