Der wichtigste Literaturpreis der Schweiz geht mit «Koala» an ein Buch, das ein Tabu thematisiert: Lukas Bärfuss berichtet darin, wie er den Suizid seines Halbbruders erlebte. Wir haben Persönlichkeiten der Basler Kulturszene gefragt, was das Buch und seine Auszeichnung bei ihnen auslösen.
Das Dilemma jeder Preisverleihung: Alle Anwesenden wollen nur eines wissen, es muss aber ein mittagsfüllendes Showevent daraus werden. Deswegen gab es ab 11 Uhr im Theater Basel zunächst frühklassische Musik für Holzbläser (ein undankbarer Gig). Dann, um die Nominierten weiter zu quälen und die Spannung zu steigern, wurde Thomas Meyer auf die Bühne gerufen, der 2012 mit seinem Debüt auf der Shortlist stand, jedoch leer ausging. Jetzt fragte ihn die Moderatorin nach der Stimmung, in der sich die Nominierten jetzt wohl befänden. Einfache Frage für das gebrannte Kind: «Jeder denkt: Ich muss hier raus.» Das sah dann, nachdem jeder Juror noch eines der nominierten Werke gewürdigt hatte, einige Sekunden vor der Enthüllung so aus:
Von links: Guy Krneta, Heinz Helle, Dorothee Elmiger, Lukas Bärfuss, Gertrud Leutenegger. (Bild: Ben Koechlin)
Lukas Bärfuss also. «Koala» sei «ein autonomer Roman eines gestaltungskräftigen Autors», begründete die Jury ihre Wahl für den siebten, mit 30’000 Franken dotierten Schweizer Buchpreis. Bärfuss verbinde in diesem Buch «auf kühne Weise grosse Themen wie Suizid, Kolonialismus und Leistungsideologie» (zur Mitteilung der Preisausrichter).
Dann stieg Bärfuss auf die Bühne, wie immer mit undurchdringlichem Gesicht. «Ein bisschen viel Aufregung ist das», sagte er ins Mikrophon, «vor allem für einen Koala» – so lautet der Jugendspitzname seines Halbbruders, der sich im Jahr 2011 das Leben genommen hat, und damit auch der Titel des Romans, in dem Bärfuss dieses Erlebnis nachzeichnet. Dann dankte er den leer Ausgegangenen: für die Bücher, die sie geschrieben haben, und dafür, dass sie die Nomination für den Buchpreis erträglich gemacht haben: «Man hält das nur aus, wenn man sieht, wer das sonst noch durchmacht.»
Sieger ist man allein. Lukas Bärfuss, kurz nachdem er den Preis entgegengenommen hat. (Bild: Ben Koechlin)
So oder so: Geschafft und ran ans Cüpli. Wer als einziger nicht feiern durfte (zweites Preisverleihungsdilemma), war Bärfuss. Der musste Interviews und Unterschriften geben. Weil das wahrscheinlich der unpassendste Moment ist, um ein Gespräch zu führen, haben wir ihn in Ruhe gelassen (hier eines auf Radio SRF) und stattdessen einige Reaktionen beim anwesenden Bâle Culturel eingeholt.
Katrin Eckert, Festivalleiterin der BuchBasel und Mitglied im Verein Literatur Basel, der den Preis zusammen mit dem Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband ausrichtet, erlaubte sich keine Auskunft darüber, ob ihr Favorit ein anderer gewesen wäre. Glücklich war sie jedoch mit der Wahl, und zwar aus einem Grund, der die meisten bewegen dürfte: «Lukas Bärfuss schreibt politisch relevant, er nimmt in Koala mit dem Suizid ein wichtiges, kaum benanntes Thema auf. Und vor allem ist er ein eigenständiger Erzähler.»
Literatur, die einen gesellschaftlichen Diskurs bewirkt
Carena Schlewitt, Leiterin der Kaserne Basel, hat zwar von den nominierten Büchern bislang nur das von Bärfuss gelesen, dabei jedoch genau das Erlebnis gehabt, das Bärfuss bei der Arbeit am Text umtrieb. Schlewitt hat selbst Fälle von Suizid in ihrem Bekanntenkreis erlebt und war beim Lesen von «Koala» zögerlich, die Darstellung von Bärfuss an sich heranzulassen. Ähnliches beschreibt der Autor im Text: Als er das Gespräch mit anderen Betroffenen gesucht habe, sei die Unterhaltung augenblicklich vertrocknet: «Es war, als sei ich mit einem schwer beladenen Wagen in voller Fahrt in tiefen Sand gefahren.» Schlewitt konnte sich jedoch im Verlauf der Lektüre für Bärfuss’ intime Perspektive auf das Erlebte öffnen.
Literatur, die einen gesellschaftlichen Diskurs bewirken kann, dürfte man das wohl nennen. Im Gespräch am Tag zuvor stellte der Moderator Thomas Strässle die Frage an Lukas Bärfuss, ob dies beim Schreiben seine Absicht gewesen sei. Der antwortete: «Nein. Mein Antrieb war egoistischer. Ich habe geschrieben, um von den Gedanken an den Suizid des Bruders loszukommen.»
Philippe Bischof, Kulturchef in Basel-Stadt, nannte die Wahl eine gute Entscheidung, ebenfalls weil bei Bärfuss die politische Relevanz und die Ästhetik eine starke Verbindung eingingen. Er wäre auch mit einem anderen Preisträger glücklich gewesen, denn – es ist dieses Jahr fast sprichwörtlich – die Auswahl der letzten fünf habe eine ungewöhnlich hohe Qualität. Auch wenn, sagt Bischof weiter, aus Heinz Helles Debüt noch nicht die Reife der anderen Autoren spreche: «Der Rest ist Lebensweg.»
«Die Offenheit der Bezüge in diesem Buch gilt es auszuhalten.» Corinna Caduff, Jury-Sprecherin, über «Koala»
Eine andere Meinung vertrat schliesslich ein Basler Schriftsteller, der hier nicht namentlich genannt werden will. Dabei hat er eigentlich nichts zu verbergen, denn er hat Lukas Bärfuss, den er als Schriftsteller schätzt, seine Irritation über «Koala» mitgeteilt und gefragt: Warum Bärfuss an die Schilderung seiner Auseinandersetzung mit dem Suizid die Passagen anfüge, die im Australien des 18. Jahrhunderts spielen? Darauf habe Bärfuss gesagt, er habe keine weiche Form für dieses Thema gewollt, sondern einen harten Bruch – was dem Basler Schriftsteller im Ansatz einleuchtet, jedoch nicht in der Umsetzung.
Tatsächlich hörte man in den letzten Zeiten immer wieder: «Koala» hast du gelesen? Machs unbedingt! Geht auch nicht lang, die Australienpassagen kannst du überspringen.
Denselben Punkt deutete die Jury-Sprecherin Corinna Caduff bei ihrer Würdigung des Buches vor Bekanntgabe des Preisträgers in die entgegengesetzte Richtung: «Die Querverbindungen zu verfolgen, die das Buch zwischen den verschiedenen Erzählsträngen zieht, fordern den Leser. Es gilt, die Offenheit dieser Verbindungen auszuhalten.»
Die Jury (die Mitglieder) hat mit «Koala» sicher nicht die gewagteste Entscheidung gefällt. Wäre die Auszeichnung an den Mundartroman «Unger Üs» von Guy Krneta gegangen (unsere Besprechung), wäre das ein ganz klein bisschen wie die Wahl des ersten schwarzen Präsidenten in den USA (vor Krneta war 2012 mit Pedro Lenz bereits ein weiterer Mundartautor nominiert). Und Dorothee Elmigers zweites Buch «Schlafgänger» ist in seiner Form so eigenwillig und schwierig, dass die Entscheidung dafür schon deswegen mutig gewesen wäre (unser Gespräch mit ihr).
Aber das alles ist jetzt unwichtig. Zumal die Zwiespältigkeit der letzten Entscheidung jedem bewusst war, der heute Mittag im Theater Basel war. Und weil diese Entscheidung nicht primär mutig sein muss, sondern gut.