«Prière de toucher» – aber fassen Sie bloss nichts an!

In der neuen Ausstellung im Museum Tinguely gehts um den Tastsinn. Berühren darf man trotzdem fast nichts.

Willst du anfassen? Darfst du nicht.

(Bild: Eleni Kougionis)

In der neuen Ausstellung im Museum Tinguely gehts um den Tastsinn. Berühren darf man trotzdem fast nichts.

Auf den ersten Blick spricht der Titel der neuen Ausstellung im Museum Tinguely Bände: «Prière de toucher», zu Deutsch: «Bitte anfassen». Man freut sich: Endlich mal grosse Kunst ohne Berührungsverbot! Finger ran an die Kunst! Duchamp-Busen ahoi! Zu sehen ist nämlich auch der famose Einband des Katalogs zur Pariser Ausstellung «Le Surréalisme en 1947»: Marcel Duchamp fabrizierte dafür eine realistisch geformte Frauenbrust aus Schaumstoff. Der Titel des Katalogs stand Pate für die aktuelle Ausstellung im Museum Tinguely: «Prière de toucher». 

Nach der geruchsintensiven Ausstellung «La belle Haleine – Der Duft der Kunst» vor einem Jahr widmet sich das Tinguely-Museum nun also dem Tastsinn, dem wohl existenziellsten aller menschlichen Sinne. Vage schwingen Erinnerungen mit an Berichte über russische Experimente mit Säuglingen, die nach Monaten sensorischer Deprivation grosse Schäden erlitten hatten. Der Tastsinn ist verbunden mit Geborgenheit, Sinnlichkeit und Vertrauen, genauso wie mit Schmerz und Unbehagen.

Verheissungsvoll: Gruselmonster, Naturlatex und Foltermaschine

Eine vielversprechende Mischung also, verstärkt durch die verheissungsvollen Werke, die man im Vorfeld in der Pressemappe sichtet: Duchamps besagte Schaumstoff-Brust, eine unheimliche Skulptur der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera, die gänzlich aus Dreck und Nägeln zu bestehen scheint, dazu genoppte Naturlatex-Arbeiten der Österreicherin Renate Bertlmann, eine monströse, kafkaeske Foltermaschine des Berner Kurators Harald Szeemann und als Sahnehäubchen ein Roboter des Kanadiers Louis-Philippe Demers, der vollautomatisch die Zuschauer begrapscht.



Der Roboter darf, die Besucherin nicht: Louis-Philippe Demers' Roboter geht auf Tuchfühlung mit der Autorin.

Der Roboter darf, die Besucherin nicht: Louis-Philippe Demers‘ Roboter geht auf Tuchfühlung mit der Autorin. (Bild: Eleni Kougionis)

Kurzum: Gute Aussichten. Auf zur vollumfassenden Tuchfühlung!

Die anfängliche Vorfreude schwindet leider bereits im Foyer. Kurator Roland Wetzel spricht bei Kaffee und Silsersandwiches von 220 Werken von 70 Künstlern in 22 Räumen. Okay, denkt man, ganz alle Werke kann man wohl nicht anfassen. Dann sagt Wetzel, dass berühren genauso berührt werden im übertragenen Sinn bedeuten kann. Okay, denkt man, vielleicht kann man nur die Hälfte der Werke anfassen. Dann: «Können Kunstwerke auch ohne direkten physischen Kontakt zum Betrachter dessen Tastsinn ansprechen?» Okay, denkt man, schade.

Und dann betritt man die Ausstellung. Sie ist wie angekündigt riesig. Von Kupferstichen aus dem 17. Jahrhundert, die den Tastsinn als Allegorie zeigen, über Filippo Tommaso Marinettis Tattilismo-Manifest von 1921 und die fingerabdrucklastigen Polaroidfotografien von Marina Abramović und Ulay aus den Siebzigern bis hin zu zwölf fantastischen Masken des jungen brasilianischen Künstlers Pedro Wirz.



Pedro Wirz’ zauberhafte Masken-Ellipse.

Pedro Wirz’ zauberhafte Masken-Ellipse. (Bild: Eleni Kougionis)

Auch der sagenumwobene Busen findet sich in der Ausstellung, sauber verstaut hinter einer fetten Glaswand. Eine klare Ansage, die auf 90 Prozent aller ausgestellten Werke zutrifft: Anfassen verboten. Dagegen hilft nur eines: Tastkino im Kopf. Bertlmanns Naturlatex-Nippel beispielsweise eignen sich hervorragend für diverse Brainstorms.



Hautfetzen? Fetisch? Cupcake-Förmchen? Renate Bertlmanns «Waschtag».

Hautfetzen? Fetisch? Cupcake-Förmchen? Renate Bertlmanns «Waschtag». (Bild: Eleni Kougionis)

Und Brugueras Gruselfigur triggert lang vergessene Horrorfilmabende als Teenager, wohlig verängstigt hinter der Sofadecke, das damalige Frösteln so präsent als wärs gestern gewesen. In diesen Momenten muss man Herrn Wetzel recht geben: Ertasten muss nicht zwingend über den Tastsinn erfolgen.



Gänsehaut auf Silbertablett: Tania Brugueras «Destierro».

Gänsehaut auf Silbertablett: Tania Brugueras «Destierro». (Bild: Eleni Kougionis)

Letztlich ist es umso schöner, wenn es das tut. Und dafür gibt es in «Prière de toucher» dann doch ein paar spektakuläre Werke, bei denen Anfassen gestattet ist. Louis-Philippe Demers’ Roboter zum Beispiel, der mit seltsam zarten Bewegungen die Körper der Besucher abtastet. Oder «Univers» des jungen Schweizers Augustin Rebetez – ein monumentaler Voodoo-Palast voller skurriler Figuren, Glücksräder, Radiatoren, blinkender Lichter und gespenstischer Fratzen, in dem man sich locker eine halbe Stunde lang verlieren kann.



Verlorengehen im Voodoo-Land: Augustin Rebetez’ «Univers».

Verlorengehen im Voodoo-Land: Augustin Rebetez’ «Univers». (Bild: Eleni Kougionis)

Allen voran steht als unangefochtener Höhepunkt jedoch eine auf den ersten Blick unscheinbare Skulptur aus den 50er-Jahren: Yves Kleins «Sculpture tactile», ein weisser Kubus mit dunkler Öffnung zum Hineinfassen.



Sowas haben Sie noch nie erlebt: Modell von Yves Kleins «Sculpture tactile», dessen grosser Bruder weiter hinten in der Ausstellung für Überraschung sorgt.

Sowas haben Sie noch nie erlebt: Modell von Yves Kleins «Sculpture tactile», dessen grosser Bruder weiter hinten in der Ausstellung für Überraschung sorgt. (Bild: Eleni Kougionis)

Was man hier erlebt, ist so ergreifend intim, dass sich der ganze (Nicht-)Berührungsgroll auf einen Schlag in Luft auflöst. Eine kleine Öffnung, die all das, was uns «Prière de toucher» in diesen erschlagenden 22 Räumen vermitteln wollte, in einer Berührung zusammenfasst: Geborgenheit, Sinnlichkeit, Unbehagen. Tastsinn in seiner reinsten Form. Der überwältigende Abschluss einer etwas zu überwältigenden Ausstellung.

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«Prière de toucher – Der Tastsinn der Kunst» im Museum Tinguely, Basel. 12. Februar bis 16. Mai.

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