Ausnahmezustand im Gare du Nord: Stimmkünstler Andreas Schaerer und Perkussionist Lucas Niggli machen gemeinsame Sache.
Es gehört zu den angenehmen Überraschungen eines so international aufgestellten Jazzfestivals wie dem in Basel, wenn gerade die «Heimatabende» für Highlights sorgen. Gerne erinnert man sich an die letztjährige spannende «Oloid»-Show des Vokalakrobaten Christian Zehnder und dem Perkussionisten Gregor Hilbe.
Ebenfalls als Duo-Konstellation, aber eine gehörige Schippe freier und gewagter, ist das Schweizer Special in der laufenden Ausgabe angelegt: Der Berner Stimmenkünstler Andreas Schaerer und Schlagwerker Lucas Niggli aus Uster versetzen den Gare du Nord mit einem sehr physisch angelegten Set in den Ausnahmezustand.
Spielwiese der Fantasie
Was Experimente angeht, sind die beiden keine unbeschriebenen Blätter: Schaerer hat mit seiner Formation Hildegard Lernt Fliegen neue Massstäbe zwischen Free Jazz und Beatboxing gesetzt, Niggli, der teils in Kamerun aufgewachsen ist, spricht schon von jeher eine perkussive Weltsprache.
In direkten Aufeinandertreffen scheinen sie ihre fantasiereichste Spielwiese gefunden zu haben: «Es ist nackt und intim, aber im Gegensatz zur Band hat es viel Platz, man kann sich austoben», sagte Schaerer 2013. «Das ist einfacher, als wenn in einer Formation schon alle Frequenzbereiche besetzt sind von Instrumenten, und du schauen musst, wo du noch ein eigenes Statement hinposten kannst», so haben sie das Projekt 2013 charakterisiert, als sie es bei der Berner Jazzwerkstatt erstmals auf die Bühne brachten.
In der Zwischenzeit haben die beiden ihr blindes Verständnis füreinander weiterentwickelt, ihr komplett improvisiertes Programm merklich intensiviert.
Trippeln, Knabbern, Huschen
Bei den Myriaden von Lautmalereien, imaginativen Klangbildern und rasanten Szenarien, die das Duo auf der Bühne entfaltet, stösst ein Rezensent schnell an seine Grenzen. Jede Beschreibung in Worten ist hier nur ein müder Abklatsch – versuchen wirs trotzdem: Da baut Niggli aus seinen Cymbals ein Gebilde von fernöstlichen Klangschalen, darüber trippelt und knabbert Schaerer so verspielt am Mikrofon, dass man an ein Rudel huschender Mäuse denkt – würde sich da nicht ein hauchender Flügelschlag hineinmischen, der sich zu einem Schwarm von Vögeln vervielfältigt.
Allmählich schält sich ein vorwärtsheizender Groove heraus, und Schaerer gibt dazu seine Version einer globalisierten Vokalwelt: Sekunden klingt er nach einem afrikanischen Falsettsänger, streut dann aber asiatisch anmutenden Obertongesang hinein. Und während sich die Toms und Becken immer weiter auftürmen – wir sind wohlgemerkt immer noch im ersten Stück – wechselt er in eine nahöstliche Skala, erstirbt schliesslich in wisperndem Beatboxen.
Ein anderes Tableau beginnt lediglich mit Nigglis rauschenden Rutenschlägen in der Luft. Schaerer nimmt die Inspiration förmlich aus der bewegten Luft auf und jagt dem Auditorium mit schaurigen Chorfetzen den Schreck in die Glieder. Über Minuten mutiert er zum Muezzin in Ekstase, dem Niggli mit querstehenden Beats begegnet, die dem Drum&Bass verpflichtet sein könnten, und die tiefe Trommel kanonenartig feuert mit Sechzehnteln. Nicht nur für die zwei auf der Bühne ist das ein Kraftakt, diese grösstmögliche Physis geht hautnah auf die Zuhörer über.
Polymetrisches Ein-Mann-Orchester
Dann wieder wechselt das Duo in ein ganz delikates Konzertieren pfeifender, klackernder und blubbernder Laute, die Schaerer clever zu einem Groove verzahnt und dann auch noch simultan übersingt: Der Berner ist ein polymetrisches Ein-Mann-Orchester, eine Zwitschermaschine 2.0.
Die aberwitzigste Passage aber lauert noch: Niggli liefert sich mit komplettem Drumset nebst grosser Trommel einen Schlagabtausch mit seinem Kollegen, der in rasender Spoken Word-Improvisation vom Radiosprecher zum Sportkommentator zum eifernden Prediger wechselt. Hier agieren die beiden wie ein verschmolzener Körper aus Wort und Rhythmus.
Geradezu leutselig die Schlusskurve des denkwürdigen Auftritts: Schaerer nimmt das Publikum in ein afrikanisches Dorf mit, überträgt ihm eine einfache, sonnige Melodie mit Fantasiesilben, Niggli untermalt mit Daumenklaviersounds. Ob das alles noch Jazz war? Die Frage sollte man im Jahr 2016 nicht mehr stellen. Und dennoch lässt Schaerer den Puristen ein Hintertürchen offen, als er in einem langen Mouth Trumpet-Solo verschiedene Etappen der Jazzhistorie verschmitzt Revue passieren lässt: Vom New Orleans-Trompeter, der den einsamen Blues durch die Nacht bläst bis zum Bebopper, der aufgewühlt über mehrere Oktaven umherspringt.